Der Peststurm
und überlegte ein Weilchen: »Das stimmt. Die nassen Wickel haben ihr schon einmal geholfen, da kann es jetzt auch nicht schaden. Außerdem wären wir – wenn wir alle zusammen sind – noch sicherer vor der Pest, denn du müsstest dann nicht mehr jeden Tag ins Dorf hinunter. Vielleicht kommt Jakob ja auch mit?«
Lodewig freute sich, dass sein Vater einsichtig war. Er konnte es kaum erwarten, Mutter und Tochter Bomberg im Schloss begrüßen zu dürfen.
*
Im Dorf unten ging es immer chaotischer zu. Die Pest forderte täglich die ihr scheinbar zustehenden Opfer. Die Staufner waren verzweifelt und wussten schon längst nicht mehr, was sie tun oder lassen sollten. Wenn sie in ihren Häusern blieben, verdursteten und verhungerten auch diejenigen, die noch nicht von den Klauen des Todes gepackt worden waren. Verließen sie aber ihre Behausungen, setzten sich auch diejenigen Familien, die noch nicht infiziert waren, der Gefahr aus, von der wütenden Seuche erwischt zu werden. Was also sollten sie tun? Außerdem gab es Ratten drinnen wie draußen. Niemand hatte einen brauchbaren Rat parat, geschweige denn lebensnotwendige Nahrungsmittel übrig. Diejenigen, denen sie immer vertrauen konnten, hatten jetzt genug mit sich selbst zu tun. Der Kastellan musste sich auf Befehl des Oberamtmannes im Schloss mehr oder weniger verbarrikadieren. Und der Propst hatte mindestens genauso viel Angst wie sie selbst und ließ sich so selten wie möglich in der Öffentlichkeit blicken. Er saß lieber in seinem Arbeitszimmer, wo er auf dem Schreibtisch die barocken Symbole der Vergänglichkeit – ein Kruzifix, eine Kerze, einen Totenschädel und eine Bibel – drapiert hatte und über den Sinn des Lebens nachdachte. Einen Arzt gab es nicht mehr, und von außerhalb traute sich fast niemand mehr nach Staufen hinein, was außerdem ebenso verboten war, wie den Ort zu verlassen. Um zu gewährleisten, dass die Seuche von Staufen aus nicht in die Residenzstadt gelangen konnte, hatte Hauptmann Benedikt von Huldenfeld im Auftrag des Oberamtmannes inmitten einer flachen und deswegen übersichtlichen Wiese – zwischen Thalkirchdorf und dem Staufenberg, direkt unterhalb einer alten ›Bauernfliehburg‹ – zwei Kompanien Soldaten postiert und sogar Sperren mit provisorischen Wachtürmen errichten lassen. Zu den bisherigen Schildern waren noch welche dazugekommen, die den Staufnern unter Androhung der sofort zu vollziehenden Todesstrafe verboten, die künstlich gezogene Grenze zu übertreten. Außerdem streiften ständig gräfliche Soldaten über die links und rechts des langgezogenen Talkessels gelegenen Steilhänge. Sicherheitshalber hatte der Gardehauptmann die einzige Straße, die von Staufen nach Immenstadt führte, auch noch auf Höhe des Alpsees abriegeln lassen. Sollte es also tatsächlich einem der Staufner Untertanen gelingen, sich über die bewaldeten Berghänge zu beiden Seiten des breiten Konstanzertales an den Wachposten vorbeizuschleichen, würde er spätestens am Alpsee abgefangen werden. Dies würde ein sofortiges Ersäufen nach sich ziehen. Hierzu würden die Wachsoldaten den Erwischten mit ihren Spießen nur ins Wasser zu drängen brauchen. Selbst wenn er schwimmen könnte – was unwahrscheinlich war – , würde ihn auf der anderen Seeseite ebenfalls hartgeschmiedetes und zugespitztes Eisen erwarten. Und sollte es – was gänzlich unmöglich war – tatsächlich jemandem gelingen, sich bis nach Immenstadt durchzuschlagen, würde er sich an der gutbewachten Stadtmauer die faulen Zähne ausbeißen.
Die Staufner waren sich jetzt selbst überlassen und konnten nicht im Geringsten mit Hilfe von außen rechnen. Also mussten sie miteinander reden, um zumindest für das Lebensmittelproblem eine einigermaßen passable Lösung zu finden. Der ›Pater‹ erkannte dies als einer der Ersten und nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um sich mit denjenigen, die sich aus ihren Behausungen heraustrauten, zu unterhalten. Dabei versäumte er es nicht, die Dorfbewohner systematisch weiter gegen die Juden aufzuhetzen. Auch wenn ihm die Geschichte mit dem scheinbar bewiesenen Brunnenvergiften nicht immer auf Anhieb geglaubt wurde und diejenigen, die sie schon mehrmals gehört hatten, langweilte, hatte er mit seiner Mission doch Erfolg: Denn spätestens dann, wenn er ihnen hinter vorgehaltener Hand berichtete, dass im Stall der Bombergs die Hühner gleich dutzendweise herumliefen und aufgrund der Tatsache, dass die Eier zurzeit nicht auf
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