Der Peststurm
am Stand der Sonne die Zeit abzulesen, und bestätigte noch kurz Jodoks Frage mit einem Kopfnicken, bevor er ihn höflich darum bat, das ersprießliche Gespräch abbrechen zu dürfen, da er heute noch ins Kloster Mehrerau zu seinem Sohn müsse.
»Wohin musst du?«, fragte jetzt Jodok mit einem ungläubigen Unterton. »… ins Kloster Mehrerau? Ich glaub’, ich fasse es nicht!«
Bevor Ulrich den Versuch unternehmen konnte, Jodok dazu zu bewegen, sein Erstaunen zu erklären, legte ihm dieser aufgrund des erst noch frischen Kennenlernens fast zu freundschaftlich einen seiner schweren Arme auf die Schultern und stellte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuzulassen schien, fest: »Weißt du was, ›Schlossherr‹ aus Staufen? Ich begleite dich bis in dieses Kloster, um dich zu beschützen! Es ist zwar nicht mehr allzu weit, aber in der aufkommenden Dunkelheit könnten dich trotzdem noch bösere Buben, als ich einer bin, überfallen und nicht nur dein braunes Ross, sondern auch noch deine sicherlich prall gefüllte Geldbörse begehren.«
Der Kastellan verstand jetzt zwar überhaupt nichts mehr, musste aber ob dieses Spruches herzhaft lachen. »Ich nehme Euer Angebot dankend an, werter Fürst der Dunkelheit! Bedenkt aber, dass ich es war, der Euch besiegt hat und nicht umgekehrt.«
Als Ulrich geradeaus zu der immer noch schreienden Menschenansammlung blickte, wurde ihm bewusst, dass es nicht würde schaden können, einen starken Mann an seiner Seite zu haben. Da Jodok über kein eigenes Pferd verfügte, musste er neben dem Kastellan, der nicht aufs Ross gestiegen war, herlaufen. So gingen sie denn in Richtung der Menschenmenge, um noch vor der Dunkelheit nach Bregenz zu gelangen.
Kapitel 26
Während andernorts die Pest ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte, nahm das Gräuel in Staufen weiter zu und die Menschen starben wie die Fliegen. Das Elend war unbeschreiblich.
Schwester Bonifatia bekam jetzt tagtäglich noch mehr Neuzugänge, denn ihre Patienten fanden von selbst den Weg zu ihrer Krankenanstalt, die wohl eher einem Sterbehospiz glich. Wenn die Anzeichen der Pest ausgeprägt sichtbar wurden, waren die Infizierten meist schon nicht mehr dazu in der Lage, klare Gedanken zu fassen. Deshalb schien es für sie das Beste zu sein, schon beim ersten Anzeichen ins Spital zu gehen. Wenn überhaupt, so hatten sie, falls sie sich tatsächlich schon angesteckt hatten, nur eine winzig kleine Überlebenschance, wenn ihnen die Schwester die eitrigen Pestbeulen aufschnitt, sie ausdrückte und reinigte, damit die aus ihrer Sicht von bösen Mächten während mystischer Rituale gemischten und während des Schlafes heimlich in ihre Körper gezauberten bösen Säfte abfließen konnten.
Die Schwester und der Kanoniker hätten schon längst kapituliert, wenn ihnen nicht Lisbeth bei ihrer deprimierenden Arbeit geholfen hätte. Das junge Mädchen war bisher die Erste und leider auch die Einzige, die diese Krankheit überlebt hatte. Sicher, gemessen an den mittlerweile über 400 Pesttoten in Staufen fiel dieser eine Erfolg nicht ins Gewicht, auch nicht, wenn er an denjenigen gemessen wurde, die im Spital verstorben waren. Die Schwester und der Kanoniker werteten diesen einen Pyrrhussieg über den Tod jedoch als ein Zeichen Gottes, das ihnen die Kraft gab weiterzumachen. Mit Lisbeths Hilfe würden sie es schon irgendwie schaffen. Auch da es für die Schwester immer schwieriger geworden war, an Nahrungsmittel zu kommen, weil ihr Heini seit einiger Zeit nichts mehr an den Stadel neben dem Sühnekreuz gelegt hatte, war es ihr nicht mehr möglich, Lisbeth während deren Krankheit täglich eine zusätzliche Ration Brot und – sofern vorhanden – auch noch einen Becher Milch zuzuschieben. Um deren Genesung in ganz besonderem Maße zu unterstützen, hatte Bonifatia sogar vergessen, dass vor Gott alle Menschen gleich waren und sie deswegen das Mädchen nicht in einen separaten Raum hätte verlegen dürfen. Aber dort war das junge Ding allein und konnte in aller Ruhe gesunden. Die Schwester wusste, dass das, was für Gott gültig war, erst recht für seine Diener auf Erden Gültigkeit haben sollte. Dafür, dass ihr diese Erkenntnis recht spät gekommen war, betete Bonifatia an jedem Abend ein Vaterunser zusätzlich. Sie setzte all ihre Hoffnungen in das junge Ding und wurde nicht enttäuscht. Dementsprechend frohgestimmt war sie jetzt. So ging sie jeden neuen Tag mit vollem Elan an, um dem Elend wenigstens etwas Paroli zu
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