Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
weil dieser schon von frühester Jugend an eine unglaublich scharfe Intelligenz an den Tag gelegt hatte. Bereits mit fünfzehn Jahren wagte er sich an die Übersetzung eines Textes aus dem alten Gueyle-Dialekt. Mit sechzehn kannte er den gesamten Stammbaum der Perthuis auswendig, konnte die siegreiche Taktik der Majoranes in der großen Schlacht von Polieste darlegen und gleichzeitig eine Gegenstrategie vorschlagen. Seine einzige Schwäche bestand in seiner Instabilität – seiner leicht verrückten Art, die er nicht unter Kontrolle hatte und die ihn manchmal der Realität entfremdete. Aladzio war von einer geradezu kindlichen Naivität. Aber genau die beruhigte Laerte.
»Beche war immer nett zu dir«, sagte Aladzio und nickte ernst. »Glaub mir, sie liebt dich wirklich sehr.«
»Aladzio«, mahnte De Page freundlich.
»Es gibt Verbindungen zwischen Menschen und Tieren. Das solltest du anerkennen. Vielleicht geht es über die uns bekannte Realität hinaus, aber deshalb darfst du noch lange nicht verächtlich darüber reden, Grenouille. Laerte.«
»Aladzio!«
De Page hatte die Stimme erhoben. Der Erfinder schwieg sofort, beruhigte sich aber noch nicht. Er knallte seinen Dreispitz auf den Tisch und brummte vor sich hin.
»Ich glaube, Laerte ist nicht den ganzen Weg hierhergekommen, um dich von deinem Vo… deiner freundlichen Beche reden zu hören. Ich denke, es gibt Wichtigeres zu besprechen. Habe ich recht?«
Sofort erhellte sich Aladzios Gesicht. Er schob ein paar Bücher hin und her und wischte den Staub von den Deckeln, bis er schließlich das Werk fand, das ihn interessierte. »Hier«, sagte er.
Mit seligen Kinderaugen blicke er Laerte an und klopfte auf den vom Zahn der Zeit angenagten Einband aus Ziegenleder.
»Der Kodex.«
»Der Kodex?«, fragte Laerte verunsichert.
»Aus dem Gueyle-Dialekt«, beeilte sich De Page zu erklären. Er wollte endlich zur Sache kommen. »Gueyle ist eine der ältesten Sprachen und Schriften der frühen Königreiche. Heute wird sie nicht mehr gesprochen. Außer von …«
»… mir!«, krähte Aladzio stolz. »Haha! Wir sind hier in einer der ersten Bibliotheken mit Skriptorium.«
Während er sprach, bewegte er sich mit weit ausgebreiteten Armen rückwärts zwischen den Tischen hindurch. Den Kodex hielt er in einer Hand.
»Hier sind Hunderte von Büchern, Laerte. Und in jedem befinden sich Jahrhunderte an Wissen, längst nicht mehr gesprochene Sprachen, Schriftzeichen und Beschreibungen. Dieser Kodex hier bildet die Verbindung zwischen den drei Liaber , die wir kennen, und … und …«
Plötzlich wurde er ernst und blieb mitten im Raum stehen.
»Ich habe es geschafft.«
Laertes Gesicht verdüsterte sich. Er warf De Page einen finsteren Blick zu, den der Herzog ohne mit der Wimper zu zucken erwiderte.
»Was denn?«, fragte Laerte, der dumpfen Zorn in sich aufsteigen fühlte.
Aladzio schüttelte verträumt den Kopf. »… zu verstehen«, antwortete er.
Er trat auf die Leiter zu und ließ sie an den Regalen entlanggleiten.
»Die Macht des Buches«, fuhr er fort und strich mit leichter Hand über die Buchrücken. »Die Macht des geschriebenen Wortes. Das, wonach die Azdekis gieren.«
Erneut warf Laerte dem Herzog einen Blick zu. De Page schüttelte den Kopf, und Laerte verstand, dass man ihm die Ungeduld am Gesicht ablesen konnte. Die Macht schien Etienne und seinem Onkel also nicht zu genügen. Sie hatten alles – die Republik, das Liaber Dest . Was brauchten sie noch? Laerte sehnte sich nach Klarheit.
»Aladzio«, griff De Page ein, »begnüge dich am besten einfach mit den Fakten.«
Der Erfinder blickte den Herzog ein wenig unzufrieden an, aber er kam nicht dazu, sich zu beschweren.
»Was erwarten sie überhaupt vom Liaber Dest? «, überlegte Laerte laut. »Denn darum geht es doch, oder? Aladzio hat es endlich übersetzt …«
De Page warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, sagte jedoch nichts. Hinter seinem Rücken hörte Laerte die raschen Schritte Aladzios und drehte sich um. Ein wenig verlegen sah der Erfinder ihn an.
»Nicht ganz«, murmelte er so leise, als verrate er ein peinliches Geheimnis. »Es ist mehr als das …«
»Das Liaber Dest kann nicht übersetzt werden wie ein beliebiges Buch«, erklärte De Page. »Es muss entschlüsselt werden. Es besteht aus Gedichten, aus in mehreren Sprachen niedergeschriebenen Gedanken und Radierungen, die man in eine bestimmte Reihenfolge bringen muss, um ihren Sinn zu erkennen.«
»Es geht um das Schicksal der
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