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Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)

Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)

Titel: Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antoine Rouaud
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wusste sie nur das, was sie in Büchern gelesen hatte. Während ihrer Jahre an der Großen Universität von Emeris hatte sie eine hervorragende Bildung erworben, doch ihr Wissen bestand nur aus Worten. Hier jedoch bekamen diese Worte endlich einen Sinn. Endlich konnte sie sich die konkrete Bedeutung der vor Hunderten von Jahren geschriebenen und wieder und wieder kopierten Werke der Mönche von Fangol vor Augen führen – jener Diener der Götter, die bis vor Kurzem als Einzige die Kunst des Schreibens beherrschten. Die Schrift galt als Stimme der Götter und war vor langer Zeit auf das Heilige Buch angewendet worden. Nachdem jedoch das Liaber Dest verschwunden und das Kaiserreich zerfallen war, veränderte sich die Lage. Wissen war nicht mehr das Privileg einer auserwählten Elite. Seit Bestehen der Republik konnte auch eine junge Frau bäuerlicher Abstammung wie Viola die Geschichte ihrer Welt studieren und sie mit Tinte und Feder weitergeben.
    Was aber hatte sie wirklich mit eigenen Augen gesehen? Sicher, sie hatte die grün überwucherten Pfade ihres heimatlichen Weilers gegen die breiten Prachtstraßen der Kaiserlichen Stadt Emeris eingetauscht. Aber sonst? Nichts als viele Worte in dicken Büchern, die auf sehr poetische Weise die alten Königreiche beschrieben.
    Und so erschienen ihr die gepflasterten Straßen Masalias wie ein neuer Lebensabschnitt. Endlich konnte sie reisen, endlich durfte sie sich selbst ein Bild von der Stadt am Ende der Welt machen. Erst als sie durch das bunt zusammengewürfelte Menschengewimmel schlenderte, wurde ihr der Reichtum der Republik wirklich bewusst. Händler priesen wortreich ihre Ware an; es gab alle nur erdenklichen Arten von Gemüse, duftende Gewürze, geflochtene Halsbänder, hübsch geklöppelte Spitzen, knuspriges Trockenfleisch oder die frischen Koteletts eines Schweins, das unmittelbar neben der Auslage geschlachtet worden war.
    Die Sonne stand im Zenit und tauchte die Siedlung in orangefarbenes Licht. Schwere Düfte nach Moschus und Zitrusfrüchten hingen in der Luft. Während der Zeit des Kaiserreichs war Masalia die einzige Stadt gewesen, in der man zumindest hoffen konnte, sein Ziel zu erreichen, wenn man von anderen als den vorgegebenen Dingen träumte. Seit die Republik ausgerufen war, hatte sich der Ruhm der Siedlung wie ein unerwarteter, hoffnungsvoller Wind in den alten Königreichen verbreitet. Viola selbst war dafür das beste Beispiel. Als Tochter eines Hufschmieds hatte sie an der Großen Universität studiert, die bis zu diesem Zeitpunkt allein dem Adel vorbehalten war.
    Wie aber würde ihre Zukunft aussehen? Würde sie ihr Dasein als Bibliothekarin inmitten alter Schmöker verbringen? Oder doch eher als Archäologin, die in der Welt herumreiste und nach antiken Artefakten und Götzenbildern suchte? Und wen würde sie eines Tages lieben? Mit wem würde sie eine Familie gründen? Welchen Platz würde sie in diesem neuen Kapitel ihrer Welt einnehmen? In der neuen Zeit, die damit begonnen hatte, dem Volk die Chance auf eine selbst gewählte Zukunft zu bieten?
    Viola stellte sich diese Fragen ohne Hoffnung auf eine Antwort. Die Möglichkeit, es könne mehrere davon geben, erschien ihr ziemlich unangenehm. Ihre Eltern hatten keine Wahlmöglichkeiten gehabt. Ihr Vater war Hufschmied, wie bereits sein Vater, sein Großvater und alle anderen vor ihm. Ihre Mutter war kaum in der Lage, ihren eigenen Namen zu schreiben. Auch wenn die Fangol-Mönche einigen Auserwählten Lesen und Schreiben beigebracht hatten, so achteten sie doch immer darauf, die Oberhoheit über das geschriebene Wort zu behalten.
    »Schönes Fräulein, kommt und kostet die Leckerbissen der Südlichen Inseln. Nie zuvor habt Ihr solche Kräuter kennengelernt«, sprach sie ein glatt rasierter Mann mit dunkler Gesichtsfarbe an. Sein gewaltiger Bauch stützte sich auf seine Auslage.
    Sie lächelte ihm flüchtig zu und nickte desinteressiert, während sie zwei Männer überholte, die sich mitten auf der Straße prügelten, ohne dass sich jemand darum gekümmert hätte. Sie hatte jetzt wirklich anderes zu tun, als durch die Stadt zu streifen. Ihr war ein Auftrag erteilt worden, und den wollte sie erfüllen. Eraëd wiederzufinden, das Schwert des Kaisers, war nicht etwa nur eine Schrulle. Es gab Menschen, die nicht bereit waren, die Vergangenheit ausschließlich schlechtzureden. Eraëd stellte mehr dar als nur ein Symbol – es war ein legendäres, vor undenklichen Zeiten geschmiedetes Schwert.
    Viola

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