Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
– Flüchtlinge, die mit erloschenen Blicken ihre Heimat verließen, ohne ihr Ziel zu kennen. Wo sollten sie auch hin? Die Fehden hatten sich ausgebreitet. Im ganzen Land brannte es, und das Blut floss in Strömen. Überall herrschte Krieg.
Unter einem blass leuchtenden Himmel erreichten sie Kapernevic. Holzhäuser standen unter Nadelbäumen an den Ufern des eisigen Flusses. Kamine aus Stein stießen Rauchwolken aus, die sich über das ganze Dorf wälzten, über die Wachtürme hinwegwaberten und sich schließlich über den Wäldern auflösten. Die Dorfbewohner, die beschlossen hatten, ihre Heimat nicht zu verlassen oder es sich nicht leisten konnten, ihr armseliges Hab und Gut im Stich zu lassen, hüllten sich in große, grob zusammengenähte Stoffbahnen. Blass und mit dunkel umrandeten Augen wankten sie umher und sahen aus wie Gespenster. Auf der Vortreppe eines baufälligen Hauses saß eine Frau, die ein kaum fünfjähriges Mädchen in den Armen hielt. Das Haar der Kleinen war schmutzig, doch Grenouille entdeckte ein paar blonde Strähnen, die ihm wie Erinnerungen an glücklichere Zeiten erschienen. Mit ausdruckslosem Gesicht sah das Mädchen Grenouille nach. Es begnügte sich damit, im Schutz der mütterlichen Arme zu beobachten, was ringsum vorging. Das Leben schien die Menschen im Stich gelassen zu haben.
Unter den stoischen Blicken dieser armen Leute ritten Dun und Grenouille im Schritt durch das Dorf. Einige Soldaten eskortierten sie bis zum Wachturm am anderen Ende, von dem aus die bewaldeten Hügel im Norden beobachtet wurden.
Plötzlich war ein lautes Lachen in der eisigen Stille zu hören. Ein kleiner rundlicher Mann in einer verbeulten Rüstung und mit einem Tierfell über den Schultern kletterte in Windeseile die Leiter des Turms hinunter. Er schien seinen Augen kaum zu trauen und freute sich wie ein Kind.
»Ich wusste, dass jemand kommen und den Erfinder abholen würde, aber ich wäre doch nicht im Traum darauf gekommen, dass du es bist!«, gluckste er glücklich. »Ausgerechnet du …«
Er stürmte auf den General zu, der von seinem Pferd stieg.
»Du hier!«, rief er und breitete die Arme aus. »Mein alter Freund!«
»Man hätte dich besser in den Süden geschickt«, scherzte Dun. »Ist dein großer Appetit der Kälte hier zu verdanken?« Die beiden Männer fielen sich um den Hals. »Übrigens war ich der Meinung, dass wir einen Alchimisten begleiten sollten.«
»Alchimist, Erfinder – er ist ein bisschen von allem, mein Freund.«
Auch Grenouille war abgestiegen und vertraute die Pferde einem Soldaten an, der sie zur Tränke brachte. Ein paar Dorfbewohner versammelten sich am Wachturm und beobachteten die Neuankömmlinge mit verstörten Gesichtern. Im Gegensatz zu ihnen und den hier stationierten Soldaten trugen der General und sein Knappe schöne Gewänder, die offenbar noch nie ein Schlachtfeld gesehen hatten. Grenouille blickte sich misstrauisch um, ließ den Daumen in den Gürtel gleiten und berührte fast unmerklich den Griff seines Schwertes.
Dun löste sich aus der Umarmung seines Waffenbruders und beobachtete ihn. Der Junge war auf der Hut, als bewegte er sich auf feindlichem Gebiet. Wovor hatte er Angst? Etwa vor diesen armseligen, zerlumpten Gestalten? Im Gesicht des Jungen erkannte er einen Ausdruck, der ihn schmerzte: Verachtung. Grenouille verachtete diese Menschen. Seine Ausbildung war wirklich alles andere als abgeschlossen …
»Grenouille, komm her«, rief er ihm zu.
»Er ist ganz schön gewachsen«, stellte Negus fest.
»Aber mit der Weisheit hapert es noch mächtig«, gab Dun leise zurück, ehe er sich an Grenouille wandte: »Erinnerst du dich an Negus? Du hast ihn in Garmaret kennengelernt.«
Der Junge nickte wortlos und deutete eine leichte Verbeugung an. Nach der Flucht aus den Salinen war das von Negus befehligte Fort Garmaret ihre erste Zwischenstation gewesen. Natürlich erinnerte er sich. Dun hatte beobachtet, wie sich Grenouille dort mit einem jungen, ebenfalls aus den Salinen stammenden Flüchtlingsmädchen unterhalten hatte, das ihn seiner Einschätzung nach nicht gleichgültig gelassen hatte. Grenouille gab sich weder besonders freundlich, noch lächelte er, sondern legte lediglich die einem General gegenüber unbedingt erforderliche Höflichkeit an den Tag. Negus’ Gesicht verdüsterte sich.
»Über dich wird viel gesprochen«, sagte er. »Du hast dich seit damals in Garmaret sehr verändert.«
»Ihr auch, nachdem Ihr die Stadt habt aufgeben müssen«,
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