Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Pfahl - Laymon, R: Pfahl - Stake

Der Pfahl - Laymon, R: Pfahl - Stake

Titel: Der Pfahl - Laymon, R: Pfahl - Stake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Laymon
Vom Netzwerk:
lernen können. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen, sagt uns die Bibel. Aber auch das Gegenteil ist wahr. ›Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen.‹ Das müssen wir im Gedächtnis behalten. Das Leben ist eine kostbare Gabe. Das sollten wir nie vergessen. Wir dürfen es nicht für selbstverständlich nehmen. Jeden Augenblick, der uns gegeben ist, sollten wir auskosten.«
    Lane spürte, wie ihre Kehle sich zusammenschnürte.
    »Wir haben nur die Gegenwart, alles andere liegt im Ungewissen. So viele von uns – und ich bin da keine Ausnahme – lassen diese wertvollen Momente verstreichen, unbemerkt und unbewusst, während wir uns mit anderen Gedanken beschäftigen. Natürlich müssen wir arbeiten und für die Zukunft planen. Aber wir verlieren auch die Zukunft, wenn wir unsere Zeit damit verbringen, uns Gedanken darüber zu machen, was als Nächstes geschehen könnte. Wenn die Zukunft uns erreicht, ist sie nicht mehr als ein Moment, ein Augenblick der Gegenwart.
    Was wir also aus dem, was Jessica und ihren Eltern zugestoßen ist, lernen können, ist Folgendes: Wir müssen unser Leben jetzt leben. Wir müssen jede Sekunde wahrnehmen und die ihr innewohnenden Wunder und Geheimnisse auskosten … und auch ihre Freuden.«
    Bei seinen letzten Worten traten Tränen in Lanes Augen. Sie blinzelte und wischte sie weg.
    Er hat so Recht, dachte sie. Jeder Moment ist wertvoll.
    Dieser Moment ist wertvoll, hier zu sitzen und Mr. Kramer zuzuhören. Ihr wurde bewusst, dass sie sich ihm noch nie so nahe gefühlt hatte, auch gestern nicht, als er sie berührt hatte.
    »Ich möchte euch ein Gedicht vorlesen. Danach werden wir mit dem Unterricht fortfahren.« Er nahm den kleinen Einband von seinen Beinen und schlug eine markierte Stelle auf. »Es ist von Allan Edward DePrey und heißt Grabgedanken .« Mr. Kramer blickte in das Buch, und seine klare Stimme wurde tief und feierlich, als er zu lesen begann:
    Entschlafe ich in dieser mondlosen Nacht
Und erwache nimmermehr
Nehme ich mit mir das schimmernde Licht
Einst schien in den Augen meiner Geliebten.
    Ich bewahre die Berührung des feuchten Grases
Unter meinen Füßen bei Sonnenaufgang
Und wie süß es roch
Als der Regen nachließ.
    Ich vergesse nicht den Geschmack
Von Brot und Fleisch und Wein
Und hege ihn, wenn ich nur noch Knochen bin
Weil er so schön ist.
    Ein paar Schüler kicherten. Mr. Kramer sah von seinem Buch auf. »Wenn ihr den Rest lieber nicht mehr …«
    »Lesen Sie weiter«, drängte Lane ihn.
    »Vielleicht sollte ich einen Teil überspringen«, sagte er. »Es ist ziemlich lang.«
    Er suchte einen Moment lang in dem Gedicht, offenbar unschlüssig, an welcher Stelle er fortfahren sollte. Dann las er weiter:
    Ich nehme mit mir ins Grab
Jeden Anblick und Geruch und Ton
Und bete, dass sie mich nicht verlassen
In meinem Schlaf unter der Erde
    Wenn Erinnerung tatsächlich überlebt
Des Schnitters wildes Messer
Ich nehme mit meinen goldenen Preis
Dessen, was ich liebte im Leben.
    Doch wenn leere Dunkelheit wartet
Beraubt von allem, was ich kenne
Verfluche ich nicht das grausame Schicksal
Welches mich dorthin verschlug allein
    Weil mir Jahre vergönnt waren zu schmecken,
Zu riechen, sehen, fühlen und lieben
Obschon letztlich verflucht zu knöchernem Müll
Hatte ich meine herrlichen Tage auf Erden.
    Jemand im Raum sagte »Pfui«, und ein paar Schüler lachten.
    »Ich gebe zu, das Gedicht hat auch trostlose Aspekte«, sagte Mr. Kramer. »Aber meiner Meinung nach hat DePrey den Kern der Dinge gut erfasst – ›Hatte ich meine herrlichen Tage auf Erden‹. Dieser herrlichen Tage sollten wir uns immer bewusst sein.« Er schlug das Buch zu und legte es zur Seite. »Also gut«, sagte er nickend. »Nehmen wir unsere Textbücher heraus und fahren fort, wo wir gestern aufgehört haben.«
     
    Als es klingelte, blieb Lane sitzen. Die anderen Schüler verließen die Klasse. Sie erinnerte sich, wie Jessica gestern an der Tür stehen geblieben war und sie düster angeblickt hatte.
    Das arme Mädchen hätte besser die Zeit genossen, die ihr noch blieb, dachte Lane, anstatt sich mit mir anzulegen.
    Aber sie konnte es ja nicht wissen.
    Niemand weiß es. Jeder von uns könnte heute Nacht sterben.
    Aber dieser Gedanke jagte ihr keine Angst ein, sondern erinnerte sie an Mr. Kramers Rat, jeden Augenblick zu genießen.
    Sie sah zu, wie er hinter seinen Tisch trat und seine Aktentasche einräumte. Ihre Blicke trafen sich. Er lächelte. »Wie geht es dir heute?«, fragte er.
    »Schon viel

Weitere Kostenlose Bücher