Der pfeifende Mörder
entgegenschlug.
»Ja«, sagte Leerdam. »Und wenn wir uns irren sollten, wäre das auch nicht so schlimm. Wir würden Sie wiederkriegen, genauso, wie wir Sie diesmal schon gekriegt haben.«
»Heißt das, daß ich entlassen bin?«
»Ja.«
»Ohne Auflagen?«
»Ohne Auflagen. Sie müssen uns nur sagen, wohin Sie sich wenden wollen, damit wir Sie sofort rufen können, wenn wir Sie zu einer Gegenüberstellung brauchen.«
»Zu einer Gegenüberstellung mit dem … Mörder?«
»Ja. Also wohin?«
Der Penner dachte kurz nach, grinste dann.
»Meine Schmuggelware bin ich los«, sagte er. »Ich muß also, bis ich wieder zu etwas Geld komme, in der nächsten Zeit auf Pump leben. Das kann ich nur bei der ›Roten Vera‹, die ist prima, hat ein Herz für unsereinen. Damit wissen Sie, wo ich zu erreichen bin.«
»Sie können Ihrer Gönnerin sagen«, mischte sich Schouwen ein, dem das Herz über seinen Erfolg voll war, weshalb ihm der Mund überlief, »daß Sie Ihnen ruhig etwas stunden kann. Ihnen steht vielleicht eine Belohnung ins Haus.«
»Belohnung für was?«
»Für die Ergreifung des Mörders.«
»Wieviel?«
»Zehntausend Gulden.«
»Zehn …«, der Penner schnappte nach Luft, »… tausend Gulden?!«
Das konnte er sich gar nicht vorstellen. Noch als er aus dem Polizeigebäude heraus auf die Straße trat, setzte er benommen einen Fuß vor den anderen.
Und nun geschah etwas Katastrophales.
Der Mörder, der ja ganz in der Nähe des Präsidiums wohnte, blickte zufällig aus dem Fenster und entdeckte den Penner, als dieser gerade das Gebäude verließ.
Der Mörder erstarrte. Alle Alarmklingeln in ihm läuteten. Und dann handelte er blitzschnell. Das Glück kam ihm zu Hilfe. Zuvor war er eine Stunde lang bemüht gewesen, wieder einmal in die Maske des angegrauten Biedermannes zu schlüpfen, weil er sich abends mit einem Küchenmädchen treffen wollte, das dadurch in höchster Lebensgefahr schwebte. Nun mußte also das Programm raschestens geändert werden. Den Biedermann hatte der Penner nie gesehen, nicht bei Tag und nicht bei Dunkelheit. Es war also dem Mörder möglich, dem Penner zu folgen, ohne von diesem gleich entdeckt zu werden. Und dies tat er. Er folgte dem Penner bis in die Gegend von Haringen, benutzte wie dieser die gleichen öffentlichen Verkehrsmittel. In der Hand trug er seine neue Aktentasche mit ihrem mörderischen Inhalt.
Der tote Penner wurde geköpft in seinem Blut an der Deichböschung unweit der Schenke der ›Roten Vera‹ gefunden. Zu dieser Stunde hielt sich der Mörder schon wieder in seiner Wohnung auf und versuchte, wie üblich nach einem vollbrachten Werk, zufrieden einen guten Schluck zu trinken. Das gelang ihm aber heute nicht. Unruhe trieb ihn durchs Haus. Er lief pausenlos von Zimmer zu Zimmer. Spürte er, daß sich die Schlinge, für die er so lange nur Hohn und Spott übriggehabt hatte, nun doch enger zog?
Paul Leerdam stand vor der Leiche des Penners bzw. Schmugglers bzw. Hausierers, über die man eine Decke geworfen hatte. Die ›Rote Vera‹ jammerte im Hintergrund inmitten einiger Gäste und beteuerte immer wieder, nicht zu wissen, wer das getan haben könnte.
Leerdam stand mit gesenktem Kopf da. In ihm bohrte die Frage: Woher wußte der Mörder, daß es höchste Zeit für ihn war, diesen Mord zu verüben? Woher wußte er das?
Die jammernde Wirtin hörte nicht auf zu beteuern, daß sie sich nicht vorstellen könne, wer das getan habe.
»Hauen Sie ab!« brüllte Leerdam plötzlich, der sich gestört fühlte. »Verschwindet alle hier!« Woher wußte er das? fragte er sich dann wieder. Er zermarterte sich sein Gehirn.
Und mit der Zeit nahm der Gedanke, der ihn von Anfang an beschlichen hatte, immer festere Formen an. Er wehrte sich dagegen, konnte ihn aber nicht mehr von der Hand weisen.
Welcher Gedanke das war, wurde klar, als Leerdam seinen Assistenten zu sich rief, der in der Nähe den Boden nach Fußspuren absuchte.
»Wilm«, fragte ihn der Kommissar mit unterdrückter Stimme, »sagen Sie mal, kennen Sie in unserer Nähe einen Polizisten, der links oben einen Goldzahn hat?«
»Chef«, stieß Schouwen hervor, »an das gleiche habe ich auch schon gedacht.«
»Und?«
Der Assistent zuckte die Achseln.
»Ich weiß von keinem.«
»Aber woher hat der Mörder so schnell in Erfahrung gebracht, daß er diesen Mord verüben muß?«
»Vielleicht … vielleicht steckt ein Polizist mit ihm unter einer Decke.«
»Das müßte aber dann einer in unserer unmittelbaren
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