Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Pfeil der Rache

Der Pfeil der Rache

Titel: Der Pfeil der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.J. Sansom
Vom Netzwerk:
Wetter war an diesem Morgen noch drückender, der Himmel schwefelgelb. Ich lenkte meine Schritte auf die Middle Temple Lane und folgte der schmalen Gasse zwischen den Häusern hügelabwärts. Am Ende eines Seitenwegs erhob sich die altehrwürdige Temple Church. Vincent Dyrick war Mitglied der Anwaltskammer Inner Temple. Nur noch vier Tage bis zur Anhörung, dachte ich. Ich ging weiter, an den Temple Gardens vorüber, einem weitläufigen Park, in dem die jüngsten Unwetter büschelweise Blütenblätter von den Rosenbüschen geweht hatten, und erreichte schließlich die Anlegestelle Temple Stairs.
    Auf dem Fluss wimmelte es nach wie vor von Frachtkähnen, die gen Osten schwammen. Eine Barkasse hatte Arkebusen geladen, deren fünf Fuß lange Eisenrohre in der Sonne glänzten. Der Fährmann sagte mir, dass nun sämtliche Schiffe des Königs von Deptford nach Portsmouth unterwegs seien. »Wir versenken sie allesamt, diese französischen Hurensöhne«, sagte er.
    Bei der Anlegestelle Westminster hatten zwei Barkassen angelegt, an den Rudern jeweils ein Dutzend Männer. Ich erstieg die Stufen zum Geviert des New Palace Yard, auf welches das Gemäuer der Westminster Hall ihren riesigen Schatten warf. Eine hundert Mann starke Kompanie Soldaten hatte am großen Brunnen Aufstellung genommen, prachtvoll anzusehen in den rot-weißen Uniformen der Bürgerwehr Londons, der Trained Bands. Sie boten ein großartiges Schauspiel, was ja auch Sinn und Zweck der Übung war. Ihre Waffen bildeten einen nüchternen Kontrast zur leuchtend bunten Tracht; dunkle, schwere, hölzerne Streitkolben, übersät mit grausamen Dornen und Zapfen.
    Vor ihnen saß auf einem schwarzen Ross ein stämmiger Offizier, dessen Wappenrock die Königlichen Farben Grün und Weiß aufwies. Auf dem Haupt trug er einen gefiederten Eisenhelm. Eine Schar Schaulustiger säumte den Platz, die Hausierer, Krämer und Freudenmädchen von Westminster, dazu einige Schreiber aus den Gerichtshöfen. Eine der Huren löste vor den Augen der Rekruten ihr Mieder, dass die bloßen Brüste hervorquollen, und aus den Reihen der Umstehenden ertönte Gelächter und Gegröl. Der Offizier schmunzelte.
    Die Soldaten blickten angespannt drein, merkten erwartungsvoll auf, als der Offizier ein eindrucksvolles Pergament aufrollte, es mit schwungvoller Geste in die Höhe hielt und deklamierte: »Hiermit gelobe ich feierlich vor Gott und dem König, den Gesetzen und Statuten des Krieges zu gehorchen.« Er hielt inne, und die Männer wiederholten laut seine Worte. Es war die Vereidigungszeremonie, bei welcher die Männer den heiligen Schwur leisteten, der sie zum Kriegsdienst verpflichtete. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge, eine Hand wohlweislich am Beutel. Dann stand ich plötzlich in der schmalen, finsteren Gasse zwischen Westminster Hall und der Abtei. Bis auf den weißhaarigen alten Schreiber, welcher sich, gebeugt unter der Last eines Aktenbündels, langsam auf mich zubewegte, war kein Mensch zu sehen.
    Ich erreichte die altehrwürdigen normannischen Gebäude hinter Westminster Hall, deren weiße Mauern rußverschmiert waren. Anstatt wie üblich auf den Court of Requests zuzugehen, öffnete ich eine massive Holztür zum angrenzenden Gebäude und gelangte über eine schmale steinerne Treppe zu einem breiten Bogengang. Darüber prangte in geschnitzter Version das Siegel des Court of Wards: Unterhalb des Königlichen Wappens hielten zwei kleine Kinder eine Schriftrolle in die Höhe, auf welcher der lateinische Sinnspruch des Gerichtes zu lesen stand:
Pupillis Ophanis et Viduis Adiutor
. Ein Helfer der Witwen und Waisen.
    * * *
    Das breite Vestibül des Gerichtshofes war düster, mit dem vertrauten Geruch nach Staub, altem Papier und Schweiß, der solchen Gebäuden anhaftete. Etliche Türen säumten die eine Seite, während gegenüber mehrere Personen auf einer langen hölzernen Bank saßen, die Gesichter nervös und angespannt. Alle waren reich gekleidet. Da war ein Ehepaar in den Dreißigern, der Mann im vornehmen Wams und die Frau im seidenen Gewand und mit perlenbesetzter Haube. In einigem Abstand saß ein etwa zehnjähriger Knabe in einem ärmellosen Rock aus erlesenem Atlas. Eine junge Frau in einem dunklen, hochgeschlossenen Gewand hielt ihn an der Hand und diskutierte dabei mit einem mir unbekannten Barrister.
    »Aber wie konnten sie das nur tun?«, fragte sie. »Es ergibt doch keinen Sinn.«
    »Wie gesagt, Mylady«, antwortete er geduldig, »hier nach einem Sinn zu forschen, ist

Weitere Kostenlose Bücher