Der Pfeil der Rache
Einer der Fuhrknechte hatte inzwischen das Gesicht zwischen zwei Weiberbrüste getaucht. Da wurde ich auf einen Offizier im weißen Soldatenrock aufmerksam. Er saß in einer Ecke, über einen Stapel Papiere gebeugt, ohne den Tumult ringsum zu beachten. Ich kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen, da mir die wilde blonde Lockenmähne und die angenehmen Züge darunter bekannt vorkamen. Ich stieß Barak an.
»Dieser Offizier dort drüben. Erkennst du ihn?«
Barak spähte durch den matt erleuchteten Raum. »Ist es Sergeant Leacon? Ich bin mir nicht sicher. Er wurde doch aus der Armee entlassen.«
»In der Tat. Komm, wir gehen der Sache mal nach. Entschuldigt uns, Bruder Dyrick. Ein ehemaliger Mandant.«
»Irgendein Bursche, dem Ihr den Pachthof erstritten habt?«
»So ist es.«
Barak und ich bahnten uns einen Weg zwischen den Tischen hindurch. Der Soldat blickte auf, als wir an ihn herantraten. Es war tatsächlich George Leacon, der junge Sergeant aus Kent, den wir vier Jahre zuvor in York kennengelernt hatten. Ich hatte Leacon damals Unrecht getan, die Schmach jedoch wiedergutgemacht, indem ich den Bauernhof seiner Eltern einem raffgierigen Grundherrn entriss. Leacon war damals in den Zwanzigern gewesen, nun aber hatte er Falten um Augen und Mund, als wäre er um zehn Jahre gealtert. Der Blick aus seinen blauen Augen wirkte merkwürdig starr.
»George?«, fragte ich leise.
Seine Züge entspannten sich zu dem breiten Lächeln, das ich an ihm kannte. »Master Shardlake. Und Jack Barak ist auch dabei.« Er stand auf und verneigte sich. »Was führt Euch hierher? Jesusmaria, es sind schon drei Jahre vergangen, seit ich Euch das letzte Mal sah.«
»Wir reiten eines Rechtsfalles wegen nach Hampshire. Ihr seid wieder in der Armee?«
»Jawohl. Sie haben mich voriges Jahr eingezogen, als es nach Frankreich ging. Sie brauchten Männer mit soldatischem Geschick. Und jetzt erst recht, da der Angriff der Franzosen bevorsteht. Ich führe hundert Bogenschützen aus Middlesex hinunter nach Portsmouth. Ihr habt sie wahrscheinlich schon gesehen, draußen auf der Wiese.«
»Ja, sie bauen ihre Zelte auf. Wer war der vornehm gewandete ältere Gentleman hoch zu Ross?«
Leacon verzog das Gesicht. »Sir Franklin Giffard, der Obrist des Regiments. Einer der einflussreichsten Männer im nördlichen Middlesex. Er war im ersten Krieg des Königs vor dreißig Jahren Soldat in Frankreich. Unglücklicherweise ist er –, nun ja, ein wenig alt, um das Kommando zu führen.«
»Der Jüngste ist er gewiss nicht.«
»Man braucht einen vermögenden Gentleman, dem die Soldaten Respekt bezeigen, und ich wurde rekrutiert, um im Norden hundert gute Langbogenschützen auszuwählen und als sein
Locotenens
, sein Stellvertreter, zu fungieren. Mittlerweile bin ich Hauptmann, im vorigen Jahr auf dem Schlachtfeld bei Boulogne befördert.«
»Meine Glückwünsche.«
Er nickte, aber einen Moment lang wurde sein Blick leer. »Wie geht es Euch?«, sagte er dann.
»Die Juristerei hält mich auf Trab.«
»Es ist schön, Euch wiederzusehen.«
»Erinnert Ihr Euch an Tamasin Reedbourne?«, fragte Barak.
»Und ob ich das tue.«
»Wir haben geheiratet«, erzählte er stolz. »Und erwarten ein Kind, in einem Monat ist es so weit.«
Leacon schüttelte ihm warmherzig die Hand. »Dann muss ich Euch beglückwünschen.«
»Wie geht es Euren Eltern?«, fragte ich.
»Beide sind wohlauf, Sir. Sie sind noch immer auf dem Hof, der ja dank Eurer Hilfe jetzt ihnen gehört. Doch langsam werden sie alt und tun sich schwer mit der Arbeit. Ich sollte sie ablösen, aber –« Er zog eine Grimasse »– derzeit ist es einfacher, in die Armee des Königs aufgenommen als daraus entlassen zu werden.«
»Wohl wahr«, stimmte Barak ihm eifrig zu.
Leacon wies auf die Papiere, die vor ihm lagen. »Die Rechnungen meiner Lieferanten für das Essen der Männer. Sie müssen in jeder Stadt bezahlt werden. Ich habe eigens Geld dafür erhalten. Allerdings berechnen uns die Kaufleute vor Ort mehr, wegen der schlechten neuen Münzen.« Er schob die Papiere mit unwirscher Hand beiseite.
»Wie viele Männer sind eigentlich nach Portsmouth unterwegs?«, fragte Barak. »Die Wege sind voll.«
»Sechstausend, dazu kommen noch die vielen Bürgerwehren, die sich entlang der Südküste bereithalten, falls die Franzosen einfallen.«
»Donnerwetter!«
»Außerdem liegen dort die meisten englischen Kriegsschiffe vor Anker, fünfzig oder sechzig, so dass noch einige tausend Seeleute
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