Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders
er verfolgt wird.« Sie blieben dem Mann auf den Fersen, bis er ein Waldstück mit niedrigen Bäumen erreichte. Sie waren schon ziemlich nah, als Marra Júlio zuraunte: »Ich kenne den Typen.« Wie konnte es sein, dass der Offizier mitten im Urwald einen Kommunisten kennt?, wunderte sich Júlio. Aber für Fragen war keine Zeit.
»Guten Morgen, Geraldo«, Marras Stimme überraschte den Mann, der sich erschrocken umdrehte. Er hatte einen schütteren Bart und ein schmales, eckiges Gesicht.
»Guten Morgen, Delegado. Was machen Sie denn hier?«
Die beiden kannten sich aus der Stadt. Hin und wieder tauchte Geraldo in Xambioá auf, um Vorräte und Munition für seine Flinte und seinen Revolver zu kaufen. Seit zwei Jahren lebte er in einer strohgedeckten Holzhütte am Rio Gameleira und gab sich als Bauer aus.
Geraldo hieß eigentlich José Genoino Neto, war in Quixeramobim im Hinterland von Ceará geboren, fünfundzwanzig Jahre alt, Philosophie- und Jurastudent an der Staatlichen Universität von Ceará und Mitglied der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) 1 . Er hatte sein Leben in Fortaleza hinter sich gelassen, um sich dem bewaffneten Kampf gegen die Militärdiktatur anzuschließen, und war einer der etwa siebzig Revolutionäre, die in den Wäldern des Araguaiagebiets aktiv waren. Die falsche Identität hatte er angenommen, um sich in der Gegend bewegen zu können, ohne als Kommunist erkannt und vom Militär gefangen genommen zu werden. Dabei half ihm auch sein nordostbrasilianischer Akzent.
»Wir sind auf der Suche nach einem Kommunisten, der sich hier in der Gegend herumtreibt«, sagte der Offizier.
»Sie wissen doch, dass ich damit nichts zu tun habe. Ich bin ein einfacher Bauer«, erklärte Genoino.
»Ich glaube schon, dass du etwas damit zu tun hast. Wir sind auf dem Rückweg nach Xambioá, und du wirst mitkommen.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Wenn du nichts Unrechtes getan hast, brauchst du dir keine Sorgen machen. Fessle den Mann, Ricardo«, befahl Marra.
Mit dem einen Ende des Stricks band Ricardo Geraldos Hände zusammen, das andere gab er dem Offizier, der sein Pferd bestieg und losritt, den Rebellen hinter sich herziehend. Júlio, Ricardo, Emanuel, Tonho und Forel marschierten vorneweg. Sie waren froh, endlich wieder nach Xambioá zurückzukehren, denn der tagelange Marsch durch die Wälder, die Moskitoattacken, das Schlafen im Freien und das schlechte Essen hatten sie ausgelaugt.
Plötzlich gelang es Genoino, Marra den Strick aus der Hand zu reißen und sich in die Büsche zu schlagen. Der Offizier befahl ihm, stehen zu bleiben:
»Ich lasse schießen, Geraldo«, schrie er.
»Schießt doch!«, rief Genoino und rannte weiter, ohne sich umzusehen. Der Offizier rüttelte Júlio an der Schulter.
»Schieß schon, Julão.«
»Was?«
»Nun schieß schon, bevor er uns abhaut. Aber vergiss nicht, ich will ihn lebendig.«
Hastig nahm Júlio die Flinte von seiner Schulter, kniete sich mit dem linken Knie auf die feuchte Erde und stützte den rechten Ellenbogen aufs andere Bein. Schon hatte er den Mann im Visier. Júlio wollte weder danebenschießen noch den Mann aus Versehen töten, aber Genoino rannte im Zickzack weiter. Gereizt herrschte Marra ihn an, ob er nun schießen oder den Kerl entkommen lassen wollte. Ohne zu antworten, zielte der Junge auf Genoinos Rücken, rechts unterhalb der Nackenlinie. Er musste den genauen Moment abpassen, wo kein Baum dem Rebellen als Schutzschild diente. Er kniff das linke Auge zu, atmete tief durch und hielt die Luft an. Als er den Abzug drückte, sah er gerade noch, wie seine Beute nach links sprang. Die Kugel streifte seine rechte Schulter.
Genoino spürte einen scharfen Stich im Oberarm. Erschrocken ließ er die Plastiktüte fallen und fasste sich an die Schulter. Sein Hemd war schon blutdurchtränkt. Keuchend rannte er weiter und warf sich nach einigen Metern ins Gestrüpp. Mit vor Schmerz zusammengepressten Zähnen bedeckte er sich mit Ästen und Blättern. Júlio hatte ihm reglos hinterhergesehen.
»Hast du den Dreckskerl erwischt, Júlio?«, fragte Carlos Marra.
»Ja«, antwortete der Junge. »Er liegt da hinten im Wald.«
»Den schnappen wir uns.«
Sie fanden ihn im Gestrüpp, eine Hand auf die Wunde gepresst. Er krümmte sich vor Schmerzen. Marra befahl Tonho, Genoinos Plastiktüte zu holen, und blieb vor dem Verletzten stehen.
»Ein Bauer flüchtet nicht, Geraldo. Du bist also Kommunist?«
»Ich bin Bauer, Delegado«, sagte Genoino.
»Na, mal
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