Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders
Er hatte schon so viele Menschen überfallen, die er nicht einmal kannte und die den Tod vielleicht nicht einmal verdient hatten. Er hätte es tun sollen. Doch er wollte die Seele seines Vaters nicht betrüben. Erst acht Jahre später, im Jahr 1993, sollte er den Onkel wiedersehen, es war auf dessen Beerdigung, zu der Júlio nur in Erinnerung an ihre Freundschaft aus Kindertagen gegangen war. Cícero war mit dreiundfünfzig Jahren an den Folgen des Rauchens, an Lungenkrebs gestorben. Auf der Beerdigung waren nur die beiden Frauen des Toten, seine fünf Kinder und eine Handvoll Freunde. Júlio kannte nur einen von ihnen, den Polizisten Santos aus Imperatriz.
Júlio wunderte sich, dass sonst keiner seiner Kollegen von der Polizei zur Beerdigung gekommen war. Von Santos erfuhr er, dass Cícero nie bei der Polizei war. Es war nichts als eine Lüge gewesen, hinter der er seine Arbeit als Auftragsmörder versteckte. Die Uniform hatte er von Santos bekommen. Nun verstand Júlio auch, warum er Cícero nie bei der Polizeiarbeit gesehen hatte.
Als er seinen Onkel in seinem Sarg liegen sah, viel magerer als damals, als er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, tat er ihm leid. Doch er würde ihm niemals verzeihen können. Er ging, bevor der Sarg mit Erde bedeckt wurde. Noch wird ihm das Herz schwer, wenn er sich an den Streit und den Bruch mit Cícero erinnert.
Seine Gedanken wurden unterbrochen, als seine Frau und seine Tochter aus der Kirche zurückkamen. Er lag auf dem Sofa, das Heft unter den verschränkten Armen, dort aufgeschlagen, wo eine Seite mit einem X gekennzeichnet war. Er stellte sich schlafend. Seine Tochter trat zu ihm, gab ihm einen Kuss auf die Wange und versuchte, ihm das Heft wegzuziehen. Da hielt er die Hand des Mädchens fest und öffnete die Augen. Sie lächelten sich an. Doch seine Frau bemerkte seine geröteten Augen und fragte, ob er geweint habe. Da er seine Frau nicht anlügen wollte, lächelte er nur verlegen, stand auf und schloss sich im Schlafzimmer ein. Dort packte er das Heft in seinen alten Rucksack und verstaute ihn wieder hinter dem Schrank. Er beschloss, das Heft nie wieder anzurühren. Seit diesem Sonntag, dem 16. April 2006, notierte er seine Aufträge auf losen Zetteln. Die 487 im Heft verzeichneten Morde waren genug.
1996, elf Jahre später, wurde Bürgermeister Roberto Pascoal, als Auftraggeber des Mordes vor Gericht gestellt, freigesprochen.
1 Er kam 1953 in Penalva, 250 Kilometer von São Luis zur Welt, war einer der ersten, die nach Serra Pelada kamen. Er erlangte Berühmtheit durch den Fund von mehr als einer Tonne Gold, die ihn schnell reich machten. Legendär ist die Episode, nach der er ein Flugzeug nach Rio de Janeiro gechartert haben soll, weil ihn die Angestellte der Fluglinie wegen seines ärmlichen Aussehens erst nicht bedienen wollte. José Mariano lebt heute verarmt von Sozialhilfe in Rio de Janeiro. [Anm. d. Übers.]
2 Künstlicher Brunnen, dessen Quelle unterhalb des Grundwasserspiegels liegt. Das Wasser steht unter natürlichem Druck und steigt von selbst auf. [Anm. d. Übers.]
3 Sebastiäo Curió de Moura war eine Art Bürgermeister von Serra Pelada, den der damalige Präsident der Republik, João Baptista Figueiredo, ernannt hatte. Curió, ein ehemaliger Boxer, soll in den frühen Siebzigern Koordinator der militärischen Aufklärung gegen die Araguaia-Guerilla gewesen sein und eigenhändig Guerilleros umgebracht haben. Er ist eine der Schlüsselfiguren der Diktatur. 2012 wurde er wegen Verschleppung von mindestens fünf Personen angeklagt. [Anm. d. Übers.]
4 Brasilien erlebte seit den sechziger Jahren inflationsbedingt zahlreiche Währungsreformen. Der von 1942 bis 1967 gültige Cruzeiro wurde 1967 im Verhältnis 1000:1 vom Cruzeiro Novo abgelöst und 1970 wiederum in Cruzeiro umbenannt. Darauf folgte 1986 der Cruzado (Umtauschkurs 1000:1), der 1989 (wiederum im Verhältnis 1000:1) zum Novo Cruzado und später wieder Cruzeiro wurde. Seit 1993/94 gilt die inzwischen weitgehend stabile Währung Real. [Anm. d. Übers.]
MÖRDER IM RUHESTAND
Der Wecker von Júlio Santanas Telefon klingelte pünktlich um zwei Uhr nachts. Seine Frau schreckte hoch. Was hatte ihr Mann um diese Zeit bloß vor? Sie war es gewohnt, mitten in der Nacht aufzustehen, weil er losmusste, um jemanden umzubringen, doch das war es diesmal nicht. Es war im August 2006, und vor zwei Monaten hatte Júlio versprochen, keinen Mord mehr zu begehen. Sie war sicher, dass er sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher