Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders
belogen hatte. Nicht sie. Sie war die einzige Person, die wusste, womit er seinen Lebensunterhalt wirklich verdiente. Den Kindern und den wenigen Nachbarn, zu denen er Kontakt hatte, erzählten sie, er sei Polizist. Die Idee mit der Uniform seine wahre Identität zu verschleiern, hatte er von Cícero. Heute Nacht klingelte der Wecker aus einem anderen Grund.
Mit zweiundfünfzig Jahren war Júlio das Leben, das er führte, endgültig leid. Er war auch nicht mehr so flink, seine Kraft und sein Augenlicht waren nicht mehr wie früher. Mit dem Alter war die Arbeit als Mörder zunehmend schwierig geworden. Er hatte beschlossen, sich zur Ruhe zu setzen und in eine andere Stadt, einen anderen Bundesstaat zu ziehen. Damit die Nachbarn nichts merkten, wollte er Porto Franco bei Nacht verlassen. Seine Frau und die Kinder wussten Bescheid. Nur nicht, dass sie um zwei Uhr nachts aufstehen sollten, um auf dem alten Lastwagen eines Bekannten die Stadt zu verlassen. Gegen den Willen seiner Frau, die eigentlich nicht umziehen wollte, nahm die Familie nun einige Tüten vollgestopft mit Kleidung, den Fernseher, die Stereoanlage und den DVD-Spieler mit. Ihre Möbel blieben im alten Haus zurück, das Júlio dem Besitzer des Lastwagens für fünfzehntausend Reais, zahlbar in zehn Raten zu tausendfünfhundert, verkauft hatte. Einem anderen Bekannten verkaufte er seinen Fiat 147 und das Boot für achttausend Reais.
Bevor er das Boot seinem neuen Besitzer übergab, tat er noch etwas, das sein Gewissen erleichtern sollte. Am Morgen vor der Abreise nahm er den Rucksack, in dem er das Heft mit den Aufzeichnungen seiner Aufträge aufbewahrte, stieg in das Boot und fuhr eine halbe Stunde auf dem Rio Tocantins bis in unbewohntes Gebiet. Dort nahm er den Revolver vom Gürtel und steckte auch ihn in den Rucksack. Den hatte er mit zwei kokosnussgroßen Steinen beschwert. In der Mitte des Flusses angekommen, dankte Júlio mit geschlossenen Augen Gott dafür, dass er sich nun von seinem alten Leben verabschieden konnte. Er warf den Rucksack in den Fluss und wartete, bis er in den braunen Fluten versunken war. Er wusste, dass der Tocantins an dieser Stelle mindestens zehn Meter tief war. Der Revolver und das Heft würden ihn nicht weiter belasten. Er fühlte sich erleichtert. Vielleicht sogar froh. Er konnte es kaum abwarten, nach Hause zurückzukehren und seiner Frau zu erzählen, was er getan hatte.
Seine Frau war entscheidend gewesen für Júlios Entschluss, Porto Franco zu verlassen und in einen anderen Bundesstaat zu ziehen. Seit dem Tag, an dem ihr Mann ihr gebeichtet hatte, dass er als Auftragsmörder arbeitete, im Februar 1985, elf Monate nach ihrer Hochzeit, hatte sie nicht aufgehört, ihn darum zu bitten, dieses Leben aufzugeben. Doch Júlio entgegnete immer, dass er nichts anderes gelernt habe, und dass diese Arbeit sie und die Kinder ernähre. Alles, was sie besaßen, hatte er durch das Ermorden von Menschen verdient. Seine weiteste Reise hatte ihn dabei 1989 bis nach Paraná geführt, wo er den Bruder eines Unternehmers tötete, der selbst der Auftraggeber war und an das Erbe seines jüngeren Bruders wollte. Auch diese Geschichte würde von nun an für immer in der Vergangenheit ruhen. Er würde endlich in Frieden leben, mit seiner Frau und den Kindern, denen er erzählt hatte, er sei aus dem Polizeidienst ausgeschieden, und sie würden sich nun in einer schöneren Stadt als Porto Franco niederlassen.
»Gibt es dort ein Kino, Papa?«, fragte sein achtzehnjähriger Sohn.
»In der Stadt, in der wir wohnen werden, nicht. Aber ganz in der Nähe gibt es eine größere Stadt, mit Kino, Shopping-Center, all diesem Quatsch, den ihr so mögt«, antwortete Júlio, während er den 20-Zoll-Fernseher in den Lastwagen lud.
Die ganze Fahrt von Porto Franco nach Palmas, der Hauptstadt von Tocantins, saß Júlio am Fenster, links neben ihm seine Frau. Die Kinder saßen auf der Pritsche hinter dem Fahrersitz und hörten nicht auf zu reden, so aufgeregt waren sie, zum ersten Mal ihre Geburtsstadt zu verlassen. Zu dieser nachtschlafenden Zeit waren die Straßen von Porto Franco menschenleer. Als sie losfuhren, bat Júlio den Fahrer, noch einmal ans Ufer des Tocantins zu fahren. Er wollte einen letzen Blick über die Landschaft werfen, die immer – in guten wie in schlechten Zeiten – Teil seines Lebens gewesen war. Auf dem trüben Wasser des Flusses hatte er vor fünfunddreißig Jahren, im August 1971, sein erstes Opfer getötet, den Fischer Amarelo.
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