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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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seine olivfarbene Decke über die Knie gelegt und gefragt: »Na, wie sitzt es sich in deinem Rolls-Royce?«
    »Sssuper!«
    »Dann kann’s also losgehen? Alles klar?«
    »Okeh-Scheff!«
    Ich habe die Karre über den Schotter im Hof geschoben. Sie sank etwas ein und war schwer zu lenken, aber da ich Marlènes Blick zwischen meinen Schulterblättern spürte, habe ich alles darangesetzt, nicht stehen zu bleiben.
    Nach dem Gartentor wurde es leichter, der Weg war eben, mit altem Teer gepflastert.
    Als wir etwa dreißig Meter weit waren, habe ich Marlène noch schreien hören: »Du kannst ihn von mir aus ruhig ertränken, ich wär dir nicht böse!«
    Roswell hat sich schlappgelacht.

 
    B is zu dem Weg, der am Kanal entlanggeht, sind es fast zweihundert Meter.
    Die Karre rollte gar nicht schlecht, auch wenn sie schwer und kaum zu lenken war. Ich kam mir ein bisschen albern vor hinter diesem Jahrmarktsgefährt, auf dem Roswell im Schneidersitz saß, in seine Vliesdecke gehüllt wie ein alter Sioux, und alle drei Minuten aus voller Kehle »Ssssuuuper!« blökte, um der ganzen Welt zu zeigen, wie glücklich er war. Die Räder waren breit genug, um die Stöße etwas zu dämpfen, aber Roswell sackte trotzdem mit jedem Schlagloch weiter in sich zusammen. Ich hatte mich verkalkuliert. Mit einem Kissen im Rücken und zwei als Armstützen hätte er es bequemer gehabt. An der Kreuzung zwischen Straße und Treidelweg, wo es etwas steiler bergab geht, ist Roswell plötzlich seitlich umgekippt. Ich habe sofort angehalten. Sein Gesicht klemmte zwischen den Knien, und ein Arm hing ins Gras.
    »Alles in Ordnung?«
    Er hat mit einem undeutlichen Brummen geantwortet, etwas wie »Grmmff-mmfff-ppffff«.
    Während ich ihn unter den Armen packte, um ihn wieder hochzuziehen, lachte er sich kaputt. Er hatte vor lauter Freude seine ganze Hand im Mund. Manche Kleinkinder lutschen am Daumen, Roswell aber stopft sich gleich vier Finger auf einmal hinein – alle bis auf den Daumen – und nuckelt bis zur Handfläche daran.
    Als ich seinen seligen Ausdruck sah, musste ich auch lachen. »Na, dir scheint die Spazierfahrt ja zu gefallen!«
    »Ooooh mja! Sssuper isses!«
    Ich habe gefragt: »Dann wollen wir mal weiter, ja?«
    Er hat feucht zurückgenuschelt: »Nna sssicher, Scheff!
    Ich habe ihm die Mütze zurechtgerückt, die ihm über ein Auge gerutscht war, die Decke wieder um ihn herumdrapiert, und dann ging es endlich den Kanal entlang.
    Der Himmel war schüchtern blau. Es war etwas kalt, aber nicht zu sehr. Wir fuhren den kleinen Uferweg entlang, er war gerade breit genug, dass ich den Wagen darauf schieben konnte, ohne Gefahr zu laufen, ihn in die Brühe rollen zu lassen. Ich wusste, ein Stück weiter würde der Weg etwas großzügiger werden. Die Räder machten auf dem Gras keinen Krach mehr. Die Enten und Teichhühner ließen sich von uns nicht stören, und der Graureiher, der hier irgendwo sein Nest hat, setzte sich hin und wieder auf die Stechginsterbüsche.
    Roswell fühlte sich offensichtlich wohl, er sang aus voller Kehle und grottenfalsch. Einen Moment lang bedauerte ich es, dass ich meinen Walkman nicht dabeihatte. Aber andererseits sorgte Roswells Konzert für Stimmung.
    Ich musste an die Waldspaziergänge denken, die wir früher mit meinen Eltern und meinen Brüdern unternahmen. Es roch nach Erde, Humus, nach Pilzen, Moder und Harz. Sobald wir unsere Lichtung erreicht hatten, immer die gleiche, holten unsere Eltern die große Picknickdecke, das Kofferradio und den Korb hervor.
    Meine Mutter legte sich hin und seufzte: »Ist es hier nicht schön?«
    Unser Vater legte sich zu ihr, den Kopf auf ihrem Bauch, und sagte: »Geht spielen, Kinder! Lasst uns ein bisschen in Ruhe, aber lauft nicht zu weit weg!«
    Und meine drei Brüder und ich flitzten davon, alle hinter Thomas her, dem Ältesten, der unser Anführer war. Es kam uns vor, als würden wir ewig rennen, weit von unseren Eltern weg, und uns echten Gefahren aussetzen. Vielleicht würden wir uns verlaufen? Vielleicht müsste die Polizei ausrücken, um uns wiederzufinden? Vielleicht würde man uns erst in zehn oder fünfzehn Jahren entdecken, wenn wir zu echten Wilden geworden wären?
    An all das dachte ich zurück, während ich den Wagen vor mir herschob und Roswell auf den Rand der Platte klopfte, um seinen Gesang mit dem passenden Rhythmus zu begleiten, was allerdings ein Ding der Unmöglichkeit war.
    Plötzlich sagte er: »Aleksh?«
    »Ja? Was ist?«
    »Da ssinn Leutte!
    »Leute?

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