Der Portwein-Erbe
kritisierte, seine bestialischen Methoden anprangerte, galt
als Verräter. Das Schlimmste waren die Spitzel unter den Kameraden.
Nach seinem Wehrdienst war er politisch geworden, hatte versucht, die Landarbeiter am Douro zu solidarischem Handeln zu bewegen.
Ende 1973 hatte er verschwinden müssen, nach Verhören durch den DGS, den Nachfolger des berüchtigten Geheimdienstes PIDE,
dessen Vorläufer wiederum von der Gestapo aufgebaut worden war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Otelo auf Dauer aus
dem Verkehr ziehen würden – wie man ihm angedroht hatte. Er war in Lissabon untergetaucht, und als am 25. April 1974 die Militärs
in der »Nelkenrevolution« das faschistische Regime entmachteten, war er seinem Traum von einem gerechten Portugal ein Stück
näher gekommen.
»In dieser Situation traf ich deinen Onkel, ein Kind aus so genanntem besserem Hause. Und so einer prügelte sich für mich.
Das hatte er beim Frankfurter Häuserkampf gelernt, wie er sagte. Da war dieser Fischer dabei, der spätere Außenminister. Chico
hat auch den Arzt für mich bezahlt. Das verbindet ein Leben lang, wenn dich einer aus der Schusslinie schleppt. Ich bin ihm
viel schuldig, Nicolas. Also, gib mir noch drei Tage. Und dann laufen wir zusammen die Weingärten ab, Rebzeile für Rebzeile,
Weinstock für Weinstock. Ich hoffe, du bist gut zu Fuß und hitzefest. Und dann müssen wir die Lese vorbereiten. Ich habe in
Frankreich einen neuen Lieferanten für den Alkohol aufgetan, mit dem wir den Port verschneiden. Eine Probe |309| muss zuvor vom Portweininstitut genehmigt werden. Außerdem – die Kellerbücher sind in Sicherheit. Ich bringe sie mit. Und
über Korken müssen wir sprechen, ob wir Naturkork verwenden oder auf Plastik oder Schraubverschlüsse umsteigen . . .«
Als seinerzeit das Chaos der widerstreitenden Fraktionen, Tendenzen und Ideologien in Lissabon kaum noch auszuhalten gewesen
war, als Anarchisten und Christliche, Kommunisten und Sozialisten, Liberale und Maoisten in der Hauptstadt sich gegenseitig
niedermachten, als die Großmächte sich einmischten und die Militärmachthaber sogar nach Bonn einbestellt wurden und sich der
Bundesnachrichtendienst einmischte, waren Otelo und Friedrich ins Alentejo ausgewichen. »Praxis machen«, »an die Basis gehen«,
in einer Kooperative. Es folgten zwei Jahre härtester körperlicher und geistiger Arbeit. »Am Ende haben wir begriffen, dass
die Leute zu verkorkst sind, um ihren Egoismus hintanzustellen. Und wer einmal oben war, will nicht wieder runter. Es war
nicht der Feind, der uns enttäuschte oder entmutigte, die Kapitalisten, faschistische Politiker und die hohen Militärs, von
denen erwartet man sowieso nichts. Enttäuschend waren unsere Leute.«
Aber Friedrich hatte im Alentejo gelernt, wie man Wein macht, und Otelo hatte sein Wissen und seinen Geschmack vervollkommnet.
Friedrich ließ sich von seinem Bruder einen Teil des Erbes auszahlen, so war er ans Geld für die Weinberge und die Quinta
gekommen. Im Gegenzug verzichtete er auf das restliche Erbe; für Nicolas’ Vater war es das beste Geschäft seines Lebens.
Wenn ich Friedrichs Erbe endgültig annehme, dachte Nicolas erleichtert, bleibt alles in der Familie. Für mich reicht es allemal,
wenn ich gut wirtschafte, und ich kann ebenfalls auf mein Frankfurter Erbe verzichten. Ich werde mir nie wieder anhören müssen,
was sie alles für mich getan haben.
|310| Lächelnd sah er aus dem Fenster, der Tejo lag hinter ihm, Hügel rückten heran, er schlief und träumte von Hochhausetagen,
Lofts, langen Fluren und Zeichnungen auf Glasplatten, unter denen Weinstöcke wuchsen. Er wachte auf, als er Coimbra auf der
Anhöhe liegen sah, die Universitätsstadt, wo er damals nach dem Besuch bei Friedrich herumgestromert war. Täglich bedauerte
er es mehr, dass Friedrich nicht mehr lebte, eigentlich begann er erst jetzt, um ihn zu trauern. Und er hätte ihn und Otelo
zu gern zusammen erlebt.
Der Zug hielt, Nicolas beobachtete die Wartenden, und er dachte daran, wie viele von ihnen damals noch gar nicht am Leben
gewesen waren, so wie er selbst, und wie viele bereits gestorben waren. Er zweifelte an seiner Theorie der Gegenwart, an Fukuyamas
Theorie, dass es außer der westlichen Zivilisation und dem neoliberalen Modell nichts anderes mehr gebe, nichts jenseits von
Wirtschaftswachstum und Shoppen. Überall brannte es, und statt die Feuerwehr besser auszurüsten, wurden
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