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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
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wohnte, schätzen lernen. Und hatte er die Augen geschlossen, war der Junge verschwunden. Die Welt aus seinem Käfig ausgesperrt. Den Hund hätte er nicht nur geduldet, den Hund hätte er an seine Seite gewünscht. Er schüttelte den Kopf. Wie konnte er sich ein em Tier, das ihm, vermutlich aus niederen Instinkten, gerade einmal einen Gefallen erwiesen hatte, so verbunden fühlen? Anatol schämte sich. Eine Scham, die er zuvor nicht gekannt hatte. Während er sich an seinen selbst gewählten Käfigfrieden erinnerte, sich gesehnt hatte, war er bestimmt hundert Schritte weiter gelangt und an einer Kreuzung angekommen. Er atmete tief ein. Hätte er eine Münze gehabt, hätte er das Los entscheiden lassen können, in welche Richtung es nun weiter gehe, und er ertappte sich dabei, das Los für schlechter zu halten als den Hund. Ermahnte sich: Niedere Instinkte, der Hund ist kein Mensch. Er hatte ihn schließlich verlassen, würde nie mehr Čelobaka genannt werden. Wie wunderte er sich also, und wieder schämte er sich, diesmal, weil er erleichtert war und doch erst festgestellt hatte, dass dazu keine Veranlassung bestehe, als er den Hund unter einem Baum entdeckte, gerade an der Kreuzung, das Hühnerbein noch im Maul, in der Hocke, seinen Darm entleerend. Der Hund war offensichtlich um einiges schneller hierhergelangt als Anatol, musste wohl gerannt sein, kein Wunder, dachte Anatol, wer seine Notdurft verrichten muss, läuft schneller. Anatol zuckte mit dem Kopf. Zu viel Menschliches, abermals, sah er in dem Hund. Ein Tier, nur ein Tier, murmelte er sich zu. Er ging vor Čelobaka in die Hocke, doch sowohl sein Knie als auch, weit schlimmer, sein Anus protestierten erbärmlich stechend über das Beugen und über das Spreizen des Gesäßes. »Ich beneide dich«, sagte er zu dem Hund, der nun auf ihn zugelaufen kam, sich von Anatol hinter dem Ohr kraulen ließ und ihm das Hühnerbein hinhielt. Offenbar geräuchert, wie man Hühner und Hühnerteile am Markt kaufen konnte, wo sie kopflos hübsch aufgereiht lagen, und weitere orange Hühner hockten auf den Liegenden, als trieben sie es alle nebeneinander. »Wer braucht schon einen Kopf zum Ficken?«, dachte Anatol und griff nach dem Hühnerbein. Tatsächlich ließ der Hund los, mit dem Ärmel wischte Anatol etwas Hundespeichel von dem Fleisch und biss ab. Es war mit süßem Paprika gewürzt.
    Das Salz brannte auf den perforierten Lippen. Der Hund und sein Schwanz setzten sich in Bewegung, versuchten, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden. Und Anatol erhob sich unter den bekannten Schmerzen. So gut wie eine Münze war der Hund allemal, sie gingen nach links.
    Als er den Hund abermals verlor, war es ihm zwar nicht gleich, aber immerhin konnte er sicher sein, dass er von hier aus überallhin finden würde, er kannte die Straßen, sie waren nahe am Primorskij Boulevard, am Vormeerigen, es war die Straße, in der sich jenes Haus befand, das aus einem bestimmten Winkel aussah, als sei es kein Haus, als wäre nur die Fassade vorhanden, denn das Nachbarhaus hatte man abgerissen und mit der seitlichen Wand gab es einen so spitzen Winkel, dass man erst glauben konnte, dass sich hier ein Haus befand, dass hierin Menschen lebten, wenn man nachts darin das Licht brennen sah. Licht hinter Fenstern, hinter denen es keine Räume zu geben schien. Wenn er weiterginge, würde sich zu seiner Linken der Djuk Richelieu befinden und zu seiner Rechten Jekaterinas imposantes Denkmal, vor einem Gebäude, dessen Antennen so spitz in den Himmel ragten, dass man glauben konnte, Schiffsmasten vor sich zu haben, und man nur die Segel setzen müsste, sollte die Stadt jemals von einer derartigen Flut heimgesucht werden, um damit davonzuschwimmen. Anatol hatte gerade vor den Augen der Fassade den Knochen des Hühnerbeins beiseite geworfen, als eine Touristin ihn bat, ihm den Weg zur Voroncovskij Pereulok zu weisen. Bislang war es ihm nie zum Problem geworden, dass die meisten Straßen in Odessa die Namen nicht auf den Häusern trugen, wusste er doch stets, wo er sich befand. Und er wühlte in seinem Kopf, grub nach der richtigen Straße, zählte die parallelen Linien der Innenstadt im Kopf durch, doch konnte er keine Antwort geben. Der Stadtplan in seinem Kopf war unbeschriftet, wie die Straßen selbst, sonst hätte er zur Antwort geben können, dass sie sich gerade in eben dieser Gasse befanden, doch weigerte sich sein Gehirn, diese Information freizugeben, denn die Straßen unter seinem Schädelknochen waren

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