Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
es eine ideale Temperatur, um die sechsundzwanzig Grad, darunter war ihr stets kalt, darüber schwitzte sie. Sie hatte so getrauert, dass selbst die Seifenbläschen, die beim Abwasch, der ihre Hände so kühl werden ließ, fröhlich aus der Geschirrspülmittelflasche hopsten, sie nicht erfreuen konnten. Sie hatte ihre Kleider in die Tasche gesteckt, neben dem Bett noch drei vergessene Socken gefunden, unter dem Bett abermals zwei und meinte, dass der zweite Fund daher komme, dass Socken in Paaren aufträten. Sie stopfte sie zu den anderen Kleidungsstücken und hatte die Wohnung verlassen. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie abgesperrt hatte, und kurz zog sich etwas in ihrer Brust zusammen, auch hatte sie vergessen, sich vor der Abreise noch kurz hinzusetzen, wie es sich gehörte, damit man heil wiederkäme, bis sie sich erinnerte, dass sie ohnedies keine Absichten hatte, zurückzukehren.
Der alte Mann, der im Zug neben ihr saß, sang ein Lied, vom Sterben muss man nicht singen, dachte sie, vom Sterben singt es sich allein. »Man«, als wären es die anderen, als ginge es sie nichts an. Teewarm war die Luft. Schwitzend saßen alle im Platzkartenwaggon, während die Zugluft böse um die Nacken strich. Irina wusste, dass sie morgen davon frieren würde. Der Konduktor schlich langsam, als führte er eine Prozession von der einen Seite des Waggons zur anderen, als er das Bettzeug austeilte. Der Himmel war nicht länger blau und rosa. Nur selten sah sie entlang der Strecke Lichter. Nachts waren alle Kakerlaken grau. Nachts kann man manchmal kaum an die Tage glauben.
Sie erzählte dem Mann neben sich – er war nicht nur alt, sondern offenbar auch altmodisch, trug ein Monokel, wer trägt so etwas heutzutage schon? – von dem, was sie nicht getan hatte, was sie gesehen hatte, dass eine Frau ein Grab mit Wasser gefüllt hatte, mit Stromstößen gefüttert und die Leiche daraus hervorgezogen hatte, doch sie hatte nicht wieder zu leben begonnen. Der arme, entehrte tote Körper. Und wie diese auch noch Steinchen nach einem Hund am Friedhof geworfen hatte. Und gleich nachdem sie zu Ende gesprochen hatte, fühlte sie eine Peinlichkeit, wie damals, als sie, wie bei allen zur Geheimhaltung zugesagten unangenehmen Wahrheiten, eine Peinlichkeit einer Freundin erzählt hatte, die sie daraufhin sattgehabt hatte. In dem Moment, als sie es ausgesprochen hatte, erschrak sie vor Reue, als wäre diese andere ihr Freund statt Feind. Doch der Mann lächelte nur, ignorierte sie wohl oder war schwerhörig, was wusste sie. Noch während sie überlegte, ob sie beim hastigen Verlassen der Wohnung nun alte Rechnungen oder Geldscheine in den Mülleimer geworfen hatte, schlief der Mann ein und sank an ihre Schulter. Sie wagte es nicht, ihn beiseitezuschieben, denn sie hätte ihn schließlich wecken können, um ihre eigene Pritsche über ihnen zu beziehen. So harrte sie aus. In der Stille, im Dunkeln, zwischen dem Schnarchen der anderen Passagiere im Großraumabteilschlafwagen kehrte sie zurück zu ihrer gerade größten gedanklichen Last: Die andere war es gewesen. Obwohl natürlich auch Irina von den alten Experimenten wusste, dass man Hunde zum Leben erwecken konnte, deren Köpfe dann nicht recht funktionierten, oder Köpfe, deren Hunde man nicht mehr brauchte. So schlimm wie zu töten, darauf hatte sie sich mit sich selbst geeinigt, war es gewesen, dieses Experiment. Was würde ihre Mutter dazu sagen? Mit Menschenleben spielen. Mit Menschenleichen spielen. Gut, dass es nicht geglückt war, gut, dass das Experiment schiefgelaufen war. Wer weiß, was geschehen wäre mit dem armen Anatol, den sie so geliebt hatte, so intensiv, wie es die Ferne eben zuließ, die daraus bestand, dass er nun eben nicht von dieser Liebe gewusst hatte. Wir hätten einander berührt, dachte sie, ohne auf den anderen Rücksicht nehmen zu müssen, weil wir einander so glichen, wir waren nicht ähnlich, wir waren gleich, dachte sie. Doch sie, diese Frau auf dem Friedhof, war anders. So etwas zu tun und den armen Köter, der zufällig dazukam, noch nebenher zu quälen. Gut, dass sie mich nicht bemerkt hat. Wie erschreckend, wie ähnlich sie ihr gesehen hatte.
Sie hörte im Dunkeln das quiekende Gähnen eines Hundes, nahm nun auch Fellgeruch wahr und glaubte, dass ein großer Hund gerade die Gänsehaut an ihrem Knie gestreift haben müsse. Ein Hund, der Hase fährt, ein schwarzfahrender Köter, wie unnatürlich, denn Fahrkarte hatte dieser sicher keine. Ein Streuner auf
Weitere Kostenlose Bücher