Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
dem Weg aus Odessa nach Moskau. Sie versuchte ihn zu berühren, griff aber ins Leere. Glaubte sogleich, dass sie es sich nur eingebildet hatte. Und so tauchte in ihrer Erinnerung wieder das todbringende Russalkenebenbild ihrer selbst auf.
Eine Doppelgängerin. Aber warum sollte jemand Irinas viel zu gewöhnliches und mit viel zu wenigen Vorteilen ausgestattetes Leben wollen? Die Universität und die Wissenschaft und das Alleinsein. Es ließ die Gedanken an eine Unterhaltung wiederkehren, die sie glaubte vor einigen Monaten geführt zu haben, nachts, wenn doch alle Kakerlaken braun sind. Der Kakerlak war neben ihrem Bett auf der Wand gehockt und hatte sie angestiert, und Irina hatte ihn gefragt, ob sie ihn nicht gestern vom Balkon geworfen habe, und der Kakerlak hatte erwidert, dass er bestimmt noch wüsste, wäre er vom Balkon geworfen worden. Irina meinte jedoch, dass sie sicher sei, und der Kakerlak entgegnete ihr: »Oh, ich habe einen Doppelgänger, wie bedenklich.« Er hatte sich mit Tolik Tarakanovič Tarakanov vorgestellt. Was für ein Name, dachte Irina. Ja, meinte, der Kakerlak, da könne ein Mensch genauso gut Ivanov heißen. Er hatte sich mit den stacheligen Beinchen über den Brustpanzer gestrichen, als glättete er eine Krawatte, und erklärt, dass er in der Tapete hinter dem Bett wohne, und dass man von den Tarakanovs schließlich wüsste, dass sie in alle Ritzen krochen, nur in keine Ärsche. So nett die Konversation Irina auch schien, mit Ausnahme der groben Einstreuungen, die Tolik Tarakanovič in Ermangelung besseren Vokabulars verwendete, hatte sie ihn dann doch zum Fenster hinausgeworfen, zum Fenster, damit sie unterscheiden konnte, falls er wiederkäme, wen sie vor sich hatte. Und Tolik Tarakanovič hatte dann noch einen Moment enttäuscht und sehnsüchtig durch die Scheibe geblickt, wie Irina gerade nun aus dem dunklen Fenster stierte, ohne etwas zu erkennen, hoffend, dass sie schon in Moskau angekommen wäre.
Sie war der Frau nach Hause gefolgt und wahnsinnig darüber erschrocken, dass sie sich vor ihrer eigenen Wohnung befand, nur dass ein anderer Name, den sie nicht entziffern konnte, an der Tür stand. Sie hatte unter der kleinen Metalltreppe, die zur Tür führte, genächtigt, um nicht bemerkt zu werden. Die andere war am Morgen nicht mehr da gewesen. Da stand sie in der Wohnung, begann zu räumen und zu putzen, packte und war nun froh, im Zug zu sitzen, vor der anderen zu fliehen, falls diese wieder nach Hause käme. Wie wenig sie doch wusste, was in ihren eigenen Räumlichkeiten vorging. Fände man überall die Leichen im Keller, dachte sie, fände man auch die Monster in den Schränken.
Irinas Kinn sank auf die Brust und sie hörte ein Plätschern im Dunkeln, das sich aus einer Bewegung ergab, das die Frösche beunruhigte, und ihr schien, da sei die Hand einer Frau grünlich aus dem Teich gekommen und jeder Finger schlug einzeln, ganz leicht ins Wasser, bildete hohe Töne, eine helle Melodie ohne Rhythmus, aber doch meinte sie, dass es das Lied »Moskauer Abende« sein musste – ach, wäre sie nur schon da –, und ins dunkle Innere ihrer Augenlider prägte sich die Nacht, die sie sah. Eine orpheische Melodie, Musik für Anatol. Ihr Gang in die Unterwelt. Grün war die Hand, nicht wie die Frösche, leuchtender, und unter Wasser stiegen vom grünen Körper Blasen auf, die Haut atmete, als wäre sie ganz verkiemt, trotz ihrer Glätte. Irina streckte ihre Hand aus und berührte den rutschigen Arm, die rutschige Schulter, es schien ihr minutenlang, bis sie bemerkt wurde, obgleich sie die türkisen Augen gleichsam die Länge der Berührung anblickten und die Person verschwand. So steckte sie den Kopf unter die Wasserschwelle mit weit aufgerissenen Augen, doch erblickte sie unter der Spiegelfläche nichts. Der Kragen ihrer Bluse war nass, vom Wasser triefte die Brust, als sie den Kopf wieder hob. Der Teich war unbemerkt zum See geworden und schmale hölzerne Stege spannten ein Netz darüber. Im Mondlicht eine riesige Spinnwebe, inmitten eine Hütte. Die dünnen Brettchen der Stege mussten wohl viel Feuchtigkeit ertragen, sie wirkten morsch, als sie darauftrat, und nachdem sie wenige Schritte vom Ufer entfernt zuallererst einbrach, ihr Bein zwischen zwei Bretter strumpfte, kroch sie auf dem Bauch weiter, die Brüste rieben auf dem nassen Holz, auf das Haus zu. Als hätte die grüne Gestalt gesagt: »Sei mein Gast«, und sie der Aufforderung sofort nachkommen müsse. Sie schob sich vorwärts,
Weitere Kostenlose Bücher