Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
Fläche vor ihrem Gesicht, an der dünnen Trennwand, an der die Pritsche hing. Außer ihrem Gesicht selbst war alles groß: Ihre Augen, ihre Nase, ihr Mund, sie füllten das ganze schmale niedrige Gesicht aus. Ein nachtmahriger Augenblick. Auf uns, Anatol, flüsterte sie, als sie unter ihr wieder tranken, sie hatten schon auf alles getrunken, Gesundheit, Bekanntschaft, Freundschaft, die Frauen, Gas, nur auf die Liebe tranken sie nicht. Sie kannte das Gefühl, das sich wie ein kleines pelziges Tier mit scharfen Krallen in ihrem Magen zusammengerollt hatte, um zu schlafen. Als sie es kennengelernt hatte, war es noch winzig gewesen, manchmal war es das auch noch später, wie dieses eine Mal, als sie sich diese wunderschöne Jacke gekauft hatte. Wie gut hatte sie sich ausmalen können, wie sie damit spazieren ging, in Clubs, wie man sie betrachten würde, wie sie damit vor die Tür treten und wie Anatol sie damit betrachten würde. Aus Angst, die Jacke irgendwo zu verlieren, einfach liegen zu lassen, wie es mit vielen ihrer Kleidungsstücke schon geschehen war, hatte sie sie dennoch kein einziges Mal getragen. Jetzt war das Tier größer. So groß, dass es die Magensäure immer wieder in ihren Mund hinaufdrückte. Gut, dass es gerade schlief, da träumte sie vielleicht weniger schwer, und so nahm sie sich vor, Anatols Tod noch einen Tag zu verschieben. Anatol lag neben ihr, nicht auf der Pritsche, es war zu eng, er lag auf der anderen Seite der Trennwand, sie hatten einfach keine Pritschen nebeneinander bekommen, als sie zum Bahnhof gefahren waren, um die Platzkarten zu kaufen, und da legte sie romantisch ihre Hand auf dieses dünne, kunststoffüberzogene Stück Sperrholz, da verharrte sie, und am Morgen würde ihr das Handgelenk wehtun. Er kon nte auch morgen noch sterben, und stürbe er, würde sie theatralisch in seinen Sarg klettern und dort verenden, an gebrochenem Herzen, würde die Pathologie sagen, Gift habe man keines gefunden, natürlich, denn sie, Irina, wüsste schon, wie man etwas mischen konnte, das nicht mehr zu finden wäre, sie hatte sogar die passende Flasche dazu, klein und braun und ins Glas war ein Totenkopf geschliffen, ach, würde sie doch begraben in seinem Sarg, und wenn Schulklassen auf den Friedhof geführt würden, würde die Fremdenführerin sagen, dass aus Sicht der modernen Forensik vermutlich doch Giftsuizid der Grund sei, doch diese Liebe wolle man nicht exhumieren. Auch der Witwenverbrennung in Indien konnte sie etwas Romantisches abgewinnen, betäubt und umtanzt auf einen Scheiterhaufen steigen. Aber so weit würde sie nicht fahren. Mit diesem Gedanken schlief sie endlich ein, das Tier im Magen schnurrte beruhigt.
Sie musste schon dringend auf die Toilette, als sie aus dem Zug stieg, denn bevor sie ankamen, hatte der Konduktor Tee gebracht, wie immer. Sie konnte lange durchhalten. Auf Zugfahrten wehrte sich ihr Körper dagegen, die Zugtoilette zu benutzen. Als sie auf den Bahnhofsvorplatz trat, sah sie die alte Baba wieder, die den Trinkenden die Pirožki gegeben hatte. »Mädchen, suchst du etwas?«, fragte sie. Und Irina erklärte ihr, dass sie nach den Frauen Ausschau halte, die Zimmer in Hotels bewarben, jedoch noch keine erblickt hatte. Und die Alte lächelte, sagte zu ihr, dass die Hotels für das Wenige, was die Stadt zu bieten habe, doch immer zu teuer seien, »komm, Mädchen, ich habe noch ein Zimmer«. Und Irina ging mit ihr, weil es die schnellste Lösung schien, zu einer Toilette und einer Dusche zu gelangen. »Wann hast du zuletzt gegessen, Mädchen?«, sagte die Baba, als sie nach der Straßenbahnfahrt in ihrer Wohnung ankamen. Und sie begann, noch während Irina sich über ein sauberes Klo freute, alles, was sie im Kühlschrank hatte, auf den Tisch zu stellen, wie es eben üblich ist, wenn man Gäste hat, und das, obwohl sie mit Irina noch gar nicht über den Preis der Unterkunft geredet hatte. Woher sie sei, fragte sie, denn der Akzent sei südlich, was sie in Uljanovsk wolle, und »Was? Kein Mann? Keine Kinder?«, fragte sie weiter, neugierig. Und erklärte, dass Vladimir Uljanovs Geburtshaus nicht weit entfernt liege. Auf dem Weg dorthin gebe es heute in der Kirche eine Messe. Sie schüttelte den Kopf, wie eine Frau in Irinas Alter, wie überhaupt eine Frau über zwanzig noch unverheiratet sein konnte. »Es gibt da jemanden«, antwortete ihr Irina. »Ein guter Mann?«, und Irina bejahte. Einen Tag noch, nahm sie sich vor, nur einen Tag, dann konnte sie Anatol töten,
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