Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
war auch lange her, dass sie auf einer Hochzeit gewesen war. Sie war noch ein Kind gewesen, es war die Hochzeit einer Tante, irgendeiner, weiß der Teufel welcher. Wo Liebe ist, ist kein Tod, haben sie gesagt. Sie, das war jemand, irgendjemand, der einen Toast auf das Brautpaar gesprochen hat. Das hätten sie auch bei ihr und Anatol getan. Alle Rituale und Traditionen, denn wenn es etwas zu feiern gab, war die Familie für einen da. Sie würden Gläser mit Geld und Vodka füllen und Anatol zwingen, ins Wasser zu steigen, damit er beweise, dass kein Wasser zu tief sei. Mit Brot würde er sich den Weg ins Haus freikaufen müssen, während sie Techno mit Liebestexten oder schlagzeuggedroschene Melodien aus Lautsprechern hörten, und den Weg bei den Eltern würden sie gemeinsam mit ihren Paten mit Küssen freikaufen. Ob Anatol noch lebende Paten hatte? Sie wusste so wenig über ihn. Ganz gleich, dachte Irina, jemand aus ihrer Familie würde sonst deren Platz einnehmen. Wichtig war, dass diese dabei waren. Sie würden durch die Tore der Wünsche gehen und den gesalzenen Bissen Brot auf das Glück essen. So stellte sie sich das vor. Der Vodka würde teuer sein, zeigen, was ihre Familie sich nicht alles leisten konnte, und die Großmutter, die eine, die noch lebte, würde tanzen und mit dem Hintern wackeln, wie immer, wenn sie betrunken war. Es würde Ananas-Hühnersalat und Fleischkuchen und eingelegtes Kraut und Rübensalat geben. Und eingelegte Tomaten, und die Masse an Gästen würde nach jedem Toast grölen: »Gor’ko! Bitter!« Nur damit sie und Anatol sich küssten, und sie hatten recht: Das Leben wäre zu bitter ohne Küsse. Auch wenn sie Anatol nie geküsst hatte, wusste sie, auf eine bestimmte, diffuse Art, in einer Art von Wissen, die ihren Weg nie zu ihrem Kopf fand, dass es genau diese Küsse waren, die das Bittere verscheuchen würden. Und auf jeden Kuss würden sie einen Rjumoč trinken und am Abend besoffen und glücklich ins Bett fallen, obwohl den Hochzeitsgästen mehr und mehr Fleisch an die Tische getragen würde, von Bekannten der Familie, die die Küchenarbeit machen würden, bis die Tische unter den Tellern nicht mehr zu sehen waren. Es wird schlechte Musik gespielt werden, weil auf Hochzeiten immer schlechte Musik gespielt wird und es den Betrunkenen doch vollkommen gleich ist. Kalt wird es sein, weil jetzt Sommer war, und vor dem Winter würden sie wohl kaum heiraten. Sie wird weiße Leggins über weißer Strumpfhose unter weißem Hochzeitskleid tragen, und vielleicht ein weißes Pelzjäckchen in der Kirche, denn sie mussten kirchlich heiraten, die orthodoxen Kronen tragen sie und schreiten um den Altar immer wieder, küssen die Ikonen, die Familie besteht darauf, und dort ist es kalt, vor allem wenn es schneit, glitzernden Schnee streut es während der Feier, zwischen dem siebenten und achten Vodka, und sie laufen hinaus, um die fallenden Flocken zu betrachten, da es vom Trinken nicht länger so kalt ist. Der Generator, der im Festzelt den Strom liefert, lässt das Licht mal stärker mal schwächer leuchten, manchmal ausgehen, immer flackern. Ein kleines Zittern im Rhythmus des Basses der Musik. Und sie spielen die traditionellen Spiele, man sammelt in blauen und rosa Strampelanzügen Geld von den Gästen, ob sie wetten, dass das erste Kind ein Junge oder ein Mädchen wird, ein Junge selbstverständlich, und sie, Irina, die Braut, läuft davon, aber natürlich nicht im Ernst, und sie kommt wieder, denn das Märchen vom unsterblichen Pferd, auf dessen Rücken der Bräutigam seine Prinzessin, seine Irina, vor bösen Bäumen, Türmen und Drachen retten muss, soll gespielt werden. Dann trägt er sie zurück, hinein in das Festzelt, denn das ist noch möglich, erst später wird sie fett und lässt sich gehen, platzt aus allen Nähten. Sie kicherte. Der Beistand des Bräutigams als Pferd, hoffentlich ist sein Beistand kräftig genug, murmelte Irina leise, leise genug, dass die anderen im Abteil sie nicht hören konnten, und doch lauschte sie, ob sie zu laut gewesen sein könnte, als ihr auffiel, dass es möglich wäre, dass Anatol gar keinen Beistand hätte, aber auch den wird dann ihre Familie stellen, denn wichtig war, dass ihre Familie da war. Dann erst bemerkte sie, dass Anatol bereits tot war. Wenn man verheiratet ist und der andere stirbt, ist es ein Geschenk zu wissen, dass man auch sterben wird. Vielleicht ist es überhaupt ein Geschenk, Irina nickte sich selbst zu in der kleinen spiegelnden
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