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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
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instinktive Weise war ihm klar, dass er keine lohnende Antwort erhalten würde. Als wäre die ganze Stadt ein untergehendes Schiff, das mit all seinen Ratten, die nicht wussten, nicht wissen konnten, wohin, ungesteuert an diesem Längengrad schaukelte und sich nicht einpendeln würde, solange er nicht an Bord zwischen den Straßen ersoff. Ein neues Heimweh zeichnete sich ab, in dessen Begrifflichkeit das Zu-Hause-Sein an diesem Ort Schmerzen verursachte.
    Er zupfte nervös am Ärmel seines, nicht seines, jenes Hemdes. Zehn Schritte von hier funktionierte die Ampel nicht, er stand, so glaubte er, schon minutenlang an derselben Stelle, solange die Ampel eben gelbes Licht zeigte, und war überzeugt, diese kaputte Ampel schon einmal gesehen zu haben, nicht an diesem Abend, vielleicht war es Monate her, und da hing sie über einer anderen Straße, zwischen anderen Häusern. Ob es wohl einen Unterschied machen würde, böge er links oder rechts ab? Er fluchte über die Abwesenheit Čelobakas. Geradeaus zu gehen konnte auch nicht mehr falscher sein als nach links oder nach rechts. Die Ampel zeigte immer noch gelb. Dunkel war es bereits und damit fast beruhigend hinfällig, nach großen Anhaltspunkten, bekannten Häusern oder Denkmälern, Bäumen, was auch immer, zu suchen. Seine Schuhe, auf denen immer noch Erdklümpchen klebten, er hatte sie, seit er die Zigany verlassen hatte, nicht mehr ausgezogen, nicht einmal, als er in seiner Wohnung, ja, seiner Wohnung, gewesen war, verursachten auf dem Schotter, der über der Straße lag, ein kratzendes Geräusch. Einige Hundert Meter weiter hielt Anatol wieder inne, zündete eine Zigarette an: Das kannte er, kannte es von gestern, hoffte er immerhin. Auch vorgestern hätte es sein können. Eine Wandschmiererei. » ZOJ FÜR IMMER « stand in ausholenden Lettern auf der Wand, es war rote Farbe, wie sie benutzt wurde, um in der Landwirtschaft zu fällende Bäume zu markieren. Daneben ein Schild, das Hundeverbot im Park Ševčenko anzeigte. Der Hund war ohnehin nicht da, er würde noch ein Stück weit gehen, bis ihm weniger übel wäre, bis er keine Angst haben müsste, sich zu drehen, wenn er auf einer der Parkbänke lag.
    Als er sich gerade wieder umwandte, bemerkte er, dass er nicht weit gekommen war, das gelbe Licht der Ampel immer noch deutlich sehen konnte. Distanz ist etwas Unglaubwürdiges ohne Meilensteine, die einem andeuten, wie weit es schon war und wie weit es noch sein würde. Ohne die kleinen hässlichen oder ansehnlichen Anzeichen gibt es keine Entfernung, nur Weite. Hundert Schritte noch, nahm er sich vor, noch hundert Schritte. Die Nachtluft drückte peinigend in seinen Ohren. Er schmeckte das Blut aus seiner Nase, leckte über die spröden Lippen. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er die Zigarette weggeworfen hatte, steckte sich aber die neue in den Mund, als er ihr Fehlen bemerkte. Er ließ sich, aus Unachtsamkeit, auf eine der Parkbänke fallen, sein Anus wurde von einem stechenden Schmerz heimgesucht, immer noch tropfte Blut aus der Nase und er erbrach, erbrach den Vodka mit der Orangenlimonade und entschied vor dem zuckrig-säuerlichen Geruch seines Erbrochenen zu flüchten, auf dem nächsten Bänklein zu nächtigen. Eines seiner Augen juckte entsetzlich, weswegen er das zweite kaum schließen konnte, die ganze Nacht lang lag er im Dunkeln, vom Geruch der Bäume umgeben. Ein juckendes und ein offenes Auge, bis es hell wurde und ihm nichts anderes klar geworden war, in der Länge dieser Nacht, in der er nicht schlafen konnte, als dass er so weit war wie am Tag zuvor, dass er haltlos durch die Stadt taumeln würde, ein zweites Mal, wenn ihm nicht bald einfiele, wohin er gehen konnte, und dass sein Auge juckte, sich nicht mehr öffnen ließ. Ein Rudel umkreiste seine Parkbank, einer trug, ritterlich fast, eine Blechdose über der Schnauze, wie das Visier einer Rüstung, die er tapfer gegenüber den anderen verteidigte. Als Anatol sich aufrichtete, langsam, denn sitzen war immer noch eine schwierige Angelegenheit, richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn und er konnte sehen, dass sie ihn umzingelt hatten, weil sie hofften, dass er doch für sie etwas hätte, doch er hatte nicht einmal für sich selbst etwas. Er erhob sich, sein Knie wehrte sich gegen die Bewegung. Am Haupttor des Parkes, vor dem Hundeverbotsschild, saß Čelobaka, und einen Moment lang glaubte Anatol aus der Entfernung, dem Hund sei ein zweiter Kopf gewachsen.

XI
    у кошки

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