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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
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als mit Taras, hätten sie sich aus Kindertagen gekannt. Was war sie für eine alte Hexe im Gegensatz zu ihm. Wie viel mochte Anatol wohl jünger sein? Mit Anatol wäre sie auf die Dächer geflohen statt unter die Bänke, auch wenn das schönste Dach, das sie in Odessa kannte, bereits eingestürzt war, mitsamt seiner wunderbaren Kuppel, so wie ihr Körper einfiel, sie blickte nieder auf ihre Knie, auf ihre Brüste. In den alten Litaneien des neuerlichen Kirchenbesuchs wurde der gorodskoj cirk lebendig, statt eines Glaubens. Die Vorstellung hatten sie verpasst, Taras und Irina, was wohl daran lag, dass sie hinter den Bänken knutschten, anstatt auf ihren Plätzen zu sitzen. Es muss der Zeitpunkt gewesen sein, als ihre kleine Schwester, auf die sie besser hätte achtgeben sollen, weinte. Sie weinte, wie sie immer weinte, wenn sie jemanden weinen sah, und der Mann im Matrosenkostüm hatte aufgemalte Tränen, sie weinte nicht, wenn sie Tränen sah, weil sie mitlitt, sie weinte, ohne das begründende Gefühl des Weinens nachzuempfinden, sie weinte aus einem körperlichen Reflex. Erst Jahre später erzählte sie Irina davon, dass sie zum Teil auch um sich selbst geweint hatte, weil sie sich ängstigte vor dem Mann, mit dem blau gestreiften T-Shirt, sie hatte immer gemeint, der Tod wohne im Meer. Während Irina also nach Luft schnappte, in der Zungenwärme dem Geruch nach Eselskot, der im Zirkus vorherrschte, keine Beachtung schenkend, hing sie fest. Sie hing fest, als die Clowns auftraten, von denen ihre Mutter, die in der ersten Reihe gesessen hatte, gemeint hatte, dass nicht einmal die Kinder über sie hätten lachen können. Während sich ihre Schwester nun, wohl wissend, dass sie die Clowns verpasste, mit mühevoll gepressten Seufzern gegen die Schnüre lehnte, die sie mit ihren Fingern umklammerte – an diesem Abend würde Irina noch selbst sehen können, wie blutig das Schwesterchen, Ljenka, ihre Fingerkuppen an den Seilen gerieben hatte –, gaben, nach Angaben ihrer Mutter, die Turner mit fast lächerlicher Inbrunst ihre Nummer. Nur über das Frettchen hatte sie sich amüsiert, das gewiss die gespannte Schnur nach oben weitergelaufen wäre, wäre die Manege nach oben offen gewesen, und über den Affen, von dem sie meinte, er habe wohl nicht verstanden, dass er hier nicht mehr das Alphatier sei, dass er sich nicht zieren dürfe, Kunststücke vorzuführen. Einen Löwen konnte sich der Zirkus ohnehin nicht leisten, nur Bären, denn die gab es hierzulande zuhauf. Die Schwester dagegen meinte: Gerne hätte sie zugesehen, sie konnte aber, egal wie verzweifelt sie es versuchte, nicht hinüberspähen zum Manegeneingang. Sie habe sich lange nicht erklären können, wie sie in diese Misslage geraten war, stellte später jedoch fest, dass es daran gelegen haben musste, dass sie das Zirkusgelände alleine erkunden wollte, obwohl Irina sie, mit der Gewissheit, dass sie es ignorieren werde, angewiesen hatte, nicht zu weit weg zu laufen. Beide hatten sie nichts darauf gegeben, doch als sie dort hing, auf der Schaukel, hatte sie, so meinte sie, noch daran gedacht, was ihre Schwester Inočka gesagt hatte. Schuld empfanden sie hierbei vermutlich beide gleichermaßen. Und sie hatte sich in ihrer Position geärgert, gedacht, Irina sitze neben der Mutter und esse Zuckerwatte, deren Geruch sie sich dort einbildete.
    Jedenfalls, der Augenblick, in dem alles geschah, musste wohl gewesen sein, nachdem Taras Irina gesagt hatte, dass er wütend auf sich sei, sich wie ein Gymnasiast verliebt habe, auf Knien liegen würde, eigentlich jedoch nicht kniete, sondern saß, Irina an der Taille packte und auf seinen Schoß setzte. Und warum, wüsste er selbst nicht, diagnostizierte ihr zwar eine Seele, aber nicht mehr als bei allen anderen Achtklässlerinnen. So nannte er sie, kein einziges Mal, wenn er sie ansprach, hatte er sie beim Namen genannt, er nannte sie immer nur: Vosmiklasnica. Ja, vermutlich wird sie vierzehn gewesen sein. Knapp danach musste es geschehen sein: Auf den Fotos hatte er noch mitgespielt, denn für die Fotos nimmt man den bravsten, weil lethargischsten Bären. Doch dann hatte er aufgegeben, Zirkusbär zu sein, hatte aufgehört, zu tanzen, saß inmitten der Manege, wie eingepflanzt, erzählte die Mutter, die es genau gesehen hatte, wohl in Erwartung, dass man ihn endlich ließe, endlich erschlüge. Nicht beachtend, wie oft man ihn anschrie, davaj, davaj, zu locken versuchte mit Keksen, oder mit der Rute auf den Hals schlug.

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