Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
Vom Netzwerk:
Tatsächlich hatte der Nachmieter aber alles, was Anatols war, weggeworfen, Anatol hatte keinen Mantel am Garderobenhaken hängen, hätte er festgestellt, wenn er nach dem Mantel gegriffen hätte, der nicht da war. Aber er hatte, trotz der Angst, den Mantel zu vergessen, nicht nach dem Mantel gegriffen, es war ihm entfallen, als wäre hinten in seinem Kopf ein Loch, durch das die Befürchtung, die Sorge um den Mantel unbemerkt getropft war. Er dachte erst wieder an den Mantel, als er bei dem Tempo, das Čelobaka vorlegte, zu schwitzen begann. Der salzige Schweiß brannte an den Nahtwunden, ihm war so warm von der Hitze der sommerlichen Nacht, in der Nacht davor musste es kühler gewesen sein, glaubte er, von dem Tempo und von den Schmerzen seiner Körperöffnungen, aber auch vom Zucken seines Knies, dass er froh war, nicht auch noch einen Mantel um die Schultern zu haben, selbst wenn er ihn ausziehen könnte, ein Gedanke, der keinen Weg in seinen Kopf fand. Gut, dachte er, dass er den Mantel zurückgelassen hatte, schließlich war Sommer. Er hätte Ohren, Hals und Gesicht waschen können, um dabei die Hände zu vergessen.
    Er musste also weitergehen, weiterspazieren, trotz der Hitze, sich wundern, warum er ging, wenngleich es nicht regnete. Vor dem Hafen war es, den er an den Hafentieren als Hafen erkannte, den stählernen Giraffen, Zebras und Löwen, als ihm der Meereswind, forsch und seinen vom Marsch heißen Körper kühlend, ein paar Wimpern ausriss. Der Hafen stand klirrend, bewegte sich in metallischen Geräuschen. Ja, ein Mantel hätte den Wind einfacher gemacht. Er wusste nicht, ob und wie lange er geschlafen hatte, war sich aber sicher, aufgewacht zu sein, denn er hatte Hunger, es konnte jedoch auch die Einsamkeit sein, er fühlte sich alleine, obwohl der Hund ihn immer noch begleitete – mehr oder minder, denn manchmal verschwand er einige Minuten in der Finsternis, um vor oder hinter ihm wieder unter dem Licht einer Straßenlaterne aufzutauchen, als wäre er niemals weg gewesen. Wenn er einsam war, dachte er stets ans Essen, so wie damals, als er sein Mobilnik verloren hatte. Schon wieder, murmelte Anatol, als er in den verhältnismäßig kleinen Taschen der großen Hosen danach tastete. Brot dem Volk, dachte er, Mobilniki dem Volk. Jetzt, wo es dunkel war, fütterte hier niemand die Tauben, nicht mit Brot, nicht mit Gift. Er stieg von der Hafenstraße die Potemkinsche Treppe hinauf, zählte die Stufen, es hätten hundertzweiundneunzig sein sollen, bisher hatte er sich jedes Mal verzählt. Gab nicht viel darauf, so bedeutungsvoll es auch sein sollte: Jede Stufe zu viel oder zu wenig eine Sünde seines Lebens, so sagt man. Und er zählte, während er keuchte und der Hund stets mehrere Stufen zugleich nahm. Als er beim Djuk angekommen war, der von der Seite im Dunkeln stets aussah, als würde er wichsen, konnte er nicht sagen, wie viel er gezählt hatte, er konnte die Zahl nicht benennen, er wusste nicht einmal, ob es zu viele oder zu wenige waren, aber was sollte das schon heißen? Niemand würde ihn danach fragen. Der Hund hatte vor dem Denkmal Richelieus auf ihn gewartet, saß dort, im Licht der Treppe. Wie still es hier war, wenn der Mann mit der Matrosenmütze nicht hier war, um Matrosenmützen und andere Souvenirs zu verkaufen. »Hast du nicht für mich gezählt, Hund?«, fragte Anatol, doch anstatt zu antworten, sprang der Hund auf, gerade als Anatol bei ihm ankam, und setzte den Weg fort, welchen auch immer, und Anatol folgte bei Fuß, so gut er in seiner augenblicklichen Kondition eben konnte.
    Der Wind streute ihm den orthodoxen Staub der Straßen ins Gesicht, er konnte kaum erkennen, wer ihn rief, und kaum erkennen, wo er sich befand, bei Deribas hinter den verkrüppelten Bäumen, die sich vor dem majestätischen Gehölz auf der Deribasovskaja schämen, an ihrem Anfang, wo die Sonne aufgeht.
    »Tolik!« Anatol war sich sicher, dass es Kolja war, der ihn gerufen hatte, oder zumindest war er sich sicher, dass, wer ihn gerufen hatte, Kolja hieß, so weit traute er sich selbst. Kolja – ein Bekannter, Anatol erschrak bei dem Gedanken, Kolja würde ihm zur Seite stehen, Kolja war bei der Milicija, Anatol würde seine Wohnung zurückerlangen können. Er stieß sich plötzlich weniger daran als sonst, dass er Freunde hatte, die marschierend durchs Leben gingen. Offenbar war Kolja schon stark betrunken, er hielt Anatol einen kleinen Plastikbecher mit Chortica hin. Der Vodka war warm, wie die Luft um sie

Weitere Kostenlose Bücher