Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
Der Bär saß also am Boden, im Sand umkreist von Zuschauern, Ljenka auf der Schaukel, die Mutter in der ersten Reihe und Inka auf Taras’ Schoß.
Für Irina war ungewöhnlich, hinter Zirkusbänken am helllichten Tag auf seinem Schoß zu sitzen, üblicherweise sahen sie einander nur an den seltenen Abenden, an denen er ins Dorf fuhr, er brachte Süßigkeiten für sie mit und rauchte, während sie an den Laternen, die noch länger leuchten würden, als sie einander sahen, vorbeispazierten, und wenn sie vorschlug, ins Kino zu fahren, führte er sie doch wie selbstverständlich in eine der Hafenkneipen, derer es am Donaudelta nahe Ismail zur Genüge gab. Und wenn Irina keine Lust dazu hatte, würde er sie statt Vosmiklasnica gleich Sedmiklasnica nennen – Siebentklässlerin, Šestniklasnica – Sechstklässlerin und so fort, oder gar Malysh, Baby. Nun waren sie beide eben durch den Zufall seines arbeitsfreien Tages dort gelandet, ohne zu sehen, was vor sich ging.
Das Thema der Bärennummer war wohl »Junge Liebe« gewesen, hatte ihre Mutter berichtet. Der Bär sollte mit Blumen auf zwei Beinen in die Manege treten und einem Mädchen, das in diesem speziellen Fall vielmehr eine dicke Frau war, diese Blumen überreichen. Eine Frau, grell geschminkt, mittleren Alters, mit ausladendem Hinterteil, breiter als der Arsch des Bären, sagte die Mutter, und Irina kam nicht umhin, sich künftig ihre Mutter in der Rolle des jungen, doch zerlaufenen Mädchens vorzustellen. Ihr Kostüm sei am ehesten ein billiger Satinschlafanzug mit Spitzenborte gewesen. Die zum pinken Schmollmund geschminkten Lippen seien von aufgedunsenen Wangen gerahmt gewesen. Der Bär folgte dem »Mädchen« auch nicht auf dem Scooter und würde keinen Kuss einfordern, um dann vor Freude Purzelbäume zu schlagen und zu tanzen. »Kolja, der Kosakenbär«, war auf dem Plakat zu lesen gewesen, das in der Pause erstanden werden konnte und dessen Erlös den Zirkusinvaliden zugute kam. Der Bär verbeugte sich auch nicht.
Erst spät hatte ihre Schwester bemerkt, dass sie Hunger hatte, spürte, wie der Magen sich zusammenzog, und erzählte davon, dass an Stelle der Angst vor etwaiger Strangulation die Furcht vor dem Hungertod getreten war. Dass der Mensch eher zum Verdursten denn zum Verhungern neigt, war ihr nicht in den Sinn gekommen, obwohl die Sonne, mitten im Hof des städtischen Zirkus, heiß auf ihrem Scheitel brannte. Sie hatte auf ihren Kopf geflucht, warum er denn so groß sei – groß, wie Irinas Kopf, der ein größeres Tuch erfordert hätte, das ihr weniger auf den Kopf drückte, sodass sie schon ihren Puls im Kopf anstatt wie sonst im Bauch fühlte –, hatte ihre Ohren an den Seilen gerieben, die links und rechts ihr Gesicht einfassten, versuchte, mit stets weniger Kraft als die Male zuvor, seit sie in diese Falle geraten war, diese auseinanderzuziehen, sie federten ein wenig und drückten dann wieder gegen ihren Hals, der längst auch schon wund gescheuert war. Sie hatte doch nur ein bisschen schaukeln wollen, berichtete sie, weit weg von Irina und von der Mutter, da saß sie und ihre Beine baumelten, wackelten, schaukelten, der Kopf gegen die Schnüre gelehnt, an denen das kleine Holzbrett vom Gerüst hing. So weit eine hübsche Schaukelei, doch aus einem ihr selbst nicht mehr ganz klaren Grund hatte sie den Kopf gedreht und zwischen die Seile gelegt. Schon war sie eingeklemmt, wie es Mäusen in Fallen ergeht. Ein Gedanke, der ihr nicht sonderlich behagte, pflegten diese doch ebenso in diesen Fallen zu verenden.
Taras interessierte sich nicht dafür, wenn Irina von den Geografiestunden erzählte und behauptete, dass sie irgendwann reisen würde, lachte sie aus, sie würde nirgendwo hinkommen, ohne Visum, und es sei auch egal. Für den Bären hingegen war es weniger gleichgültig, dass er sich selbst die Angst in den Augen beim Scooterfahren erspart hatte, die an diesem Tag Irinas Schwester für ihn trug. Wenn Irina von blauen Flecken, die sie ihr verpasst hatte, erzählte, schwieg Taras vielsagend, drängte seine Zunge wieder in ihren Mund. Sie hatte ihn einen kuscheligen Bären genannt, was sie nicht hätte tun sollen, um nicht zu beschwören, dass er sie abwarf. Doch erinnerte er sie daran, mit dem stämmigen Körper, kleinen Augen und runden Ohren. Über einen Stummelschwanz wusste sie nichts.
Als die Clowns mit ihren entsetzlich nervtötenden Trillerpfeifen verschwunden waren und der Bär die Manege betreten hatte, erläuterte die Mutter,
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