Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
herum, der Geruch ließ Anatol kurz zusammenzucken, er trank trotzdem und nahm einen Schluck der Orangenlimonade, die Kolja ihm ebenfalls hinhielt und deren Geruch ihn noch schlimmer erschaudern ließ, beides brannte auf den Nahtwunden der Lippen, bis hinauf in die innen aufgerissene Nase. »Hey, Čuvak, ich war auf deinem Begräbnis. Was suchst du hier?« Anatol blickte von dem Plastikbecher auf, doch Kolja sprach schon weiter: »Ich hab doch gewusst, dass du keine Seele hast, oder sie ist toxisch! Hey, Leute, das ist Anatol, er ist tot!« Von den anderen dreien, die ringsum standen, kannte Anatol bislang keinen, vielleicht Arbeitskollegen Koljas, einer trug sogar noch seine Milicija-Uniform. Anatol kam nicht umhin, sich zu wundern: Er war doch hier, fühlte Staub in den Augen und Schmerzen an allen Winkeln und Kanten seines Körpers, und er sollte begraben gewesen sein? Und schließlich wunderte er sich darüber, sich bislang nicht gewundert zu haben – da vernähte man dir jedes Loch, Anatol, und du wunderst dich gar nicht? Bist nicht überrascht? Hast du kein bisschen Neugier in dir, was passiert sein könnte? Was glaubst du, warum die Zigany auf Auferstehung tranken? Warum hast du dich, als du neben Marina auf dem Diwan saßt, gar nicht gewundert? Oder als sie Wiedergänger sagten. Einen kurzen Moment lang konnte er sich erinnern, doch Kolja unterbrach den Gedanken, erhob seinen Plastikbecher: »Auf Tolik, den ersten Geist, den ich treffe!« Er lachte, stürzte den Vodka hinunter, räusperte sich laut, goss Limonade hinterher in seinen Hals. Und als würde er fürderhin nicht zu fragen wagen, was mit ihm passiert war, trank auch Anatol den Becher leer, den Kolja ihm zum zweiten Mal hingehalten hatte. Anatol war sich niemals sicher gewesen, ob er denn an Gott glaubte, wünschte aber gerade, dass dieser an ihn glauben konnte und er kein Geist war. Koljas Trunkenheit war es zuzuschreiben, dass er sich nicht viel dabei dachte, einem vermeintlichen Geist zu begegnen, und Koljas Trunkenheit war es zuzuschreiben, dass seine Freunde sich nicht viel dabei dachten, dass er von Geistern zu sprechen begann – so viel konnte Anatol in ihren Blicken lesen. Kolja reichte Anatol eine Zigarette und Anatol zog hektisch daran. Seine Gewohnheit hatte er nicht vergessen, bei der dritten Zigarette in zehn Minuten, die er stumm trinkend neben Kolja verbracht hatte, der darüber referierte, dass die guten Gegenden zu schlechten Gegenden würden, weil die Gopniki die Menschen berauben möchten, die sich in den guten Gegenden aufhielten, weswegen es wahrscheinlicher würde, in einer guten Gegend Gop-Stop zum Opfer zu fallen, die nun zur schlechten würde. »Und die schlechten?«, fragte der Uniformierte, und Kolja antwortete: »Schlechte halt, tak sjebje.« Anatol staunte darüber, dass ihm nicht wie sonst das Herz weh tat, wenn er zu schnell rauchte. Er ließ Kolja zurück, an der Deribasovskaja, hielt nach dem Hund Ausschau, als ihm von dem Vodka auf leeren Magen schlecht wurde, sein Bauch war aufgebläht. Er wusste, würde er sich hinlegen, würde der Propeller beginnen, und er war dankbar, denn um sich hinlegen zu können, wäre es notwendig gewesen, verzweifelt einen Ort zu suchen, um sich hinzulegen. Auch hatte er so viel seines Gleichgewichtssinns eingebüßt, dass er sich nicht hinhocken könnte, war er sich sicher, um sein größtes momentanes körperliches Problem, dass die Fäkalien ihn nicht verlassen wollten, zu lösen, also würde er auch dafür, trotz der verhüllenden Finsternis in der Stadt, keine dunkle Ecke suchen müssen.
Doch in seinem Wanken begann er aus der Nase zu bluten, fasste sich ins Gesicht, betrachtete das Blut, wie es über die Hand floss, mit einem gewissen Staunen, entschied aber, fertig zu rauchen. Zwei Zigaretten hatte er danach noch, die Kolja ihm wortlos, fast mitleidig, dem Gespenst, geopfert hatte. Die Stadt stand still unter seinem Blick, wartete auf seine Untersuchung.
Er schlurfte ein paar Schritte weiter, musste sich aber bereits nach wenigen Sekunden an einem Laternenmast festhalten. Es rauschte in seinen Ohren, er saugte an der Zigarette, das Geräusch des glühenden Tabaks mischte sich mit dem Rauschen. Der Rauch bildete ein Tier im Augenwinkel, das gleich, sobald er danach blickte, davongehuscht war. Er sah sich um, doch die Straßen waren hier plötzlich unheimlich leer. Aber was würden andere Menschen auch nütze sein? Er konnte doch niemanden nach dem Weg fragen, denn auf eine
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