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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
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sie Wattepads geschluckt, damit sie keinen Hunger mehr haben musste. Eine Strumpfhose, ein Rock, ein Hut, Anatol würde ihn nicht bemerken. Er würde nach Kiev fahren, bei Bekannten unterkommen, für eine Zeit lang. Er würde Urlaub beanspruchen, selbst wenn die Leute wie unter der Schweinegrippe stürben, und selbst wenn er dafür gekündigt würde.
    Er machte kehrt und rannte, diesmal schrie er, wofür er sich später noch schämen würde, er rannte, blickte diesmal nicht zurück. Er war nach Kiev gekommen, Ivanov war nach Kiev gekommen und fragte ihn nach dem Weg. Wie konnte er nur nach dem Weg fragen? Und ein großer, schmutziger, monströser Hund an seiner Seite, hier in Kiev, wo man die Hunde – was würden sonst die Westeuropäer, die zu Gast kamen, denken – doch reduziert hatte. Kirill hielt nach ein paar Quartalen inne, sah sich um, entschied, den Geist zu verwirren, trat in das nächstbeste Geschäft und kaufte eine Packung Tampons, wandte den Kopf, der Hut, ein Modell, das in die zwanziger Jahre gepasst hätte mit seiner Topfform und der roten Filzblume daran, schränkte jedoch seine Sicht ein. Er hoffte, dass es reichen würde, den Geist wieder für eine Zeit lang los zu sein. Eine ermordete Transe in Kiev. So wollte er wahrlich nicht enden. Er wollte nicht enden. Weder im Schrank noch im Wald.
    Er hatte nicht einfach entschieden, nach Hause zu fahren, er war nur abermals geflohen und hatte nicht gewusst, wohin sonst. Hätte er eine Dača besessen wie der Nachbar, der ständig reparierte, hätte er aufs Land fahren können. So jedoch machte er sich, nervös auf seinem teuren Autobusplatz sitzend, den Film, der auf dem kleinen Bildschirm vor ihm lief, nicht recht verfolgend, Gedanken darüber, wie er sich vor diesem Ivanov schützen könnte. Wieder trat er also nervös und erschöpft durch seine Wohnungstür. Bekreuzigte sich, »na, ob’s was nützte«, zischte er, sperrte ab, warf den Damenhut vom Kopf und die groben, nicht zum Kostüm passenden – daher hatte Ivanov ihn vielleicht erkannt – Schuhe von den Füßen. Wusch sich das Gesicht, doch Reste seiner Maske blieben zurück. Dann schob er den Diwan vor die Tür. Sie öffnete nach innen, doch wirklich sicher fühlte er sich nicht. Es wurde langsam dunkel draußen, doch er entschied, kein Licht einzuschalten. Kein Licht mehr, damit der Geist dachte, dass die Wohnung leer sei. Was hoffte Kirill, dass er so nicht auf die Idee kam, sich hier einzunisten und ihn doch heimzusuchen. Er sammelte all seine Kleidung zusammen und warf sie auf einen Haufen, verteilte aber die Frauenaccessoires, die er noch besaß, ein typisches Mädchen war die Verflossene, so klassische Erinnerungsstücke, die ihn stets sowohl nostalgisch werden ließen als auch schmerzten, zurückzulassen. Gut, dass er sie nicht geheiratet hatte. Sie würde sich gehen lassen, wenn sie geehelicht würde, hatte sie dereinst einer Freundin erzählt. Aber doch: Was hatte er ihr nicht an Watte nach Hause getragen. Er legte ihren Lippenstift auf das kleine Brett vor dem Spiegel im Vorzimmer, Strümpfe über Sessellehnen, Blusen auf das Bett. Ivanov würde glauben, dass hier eine Frau wohnte. Dann warf er all die Decken und Kissen, die er besaß, und die Teppiche, die schmutzigen Teppiche mit ihren verblassten rot-gelben Ornamenten, darüber. Ein Berg an Material. Er schwitzte von der Anstrengung. Fuhr sich durch die Haare, wischte den Schweiß von den Geheimratsecken. Er hatte Hunger, doch wieder hatte er sich darauf konzentriert davonzulaufen, anstatt zu essen. Doch die Wattepads waren noch hier. Das würde einstweilen den Magen füllen, und die Tampons, die noch leichter rutschten als die wattigen Kekse. Er versuchte, sie als Ganze zu schlucken, den Ersten hatte er noch gekaut, doch die Faserreste zwischen den Zähnen waren ihm unangenehm. Er ließ sich auf dem textilen Berg kurz nieder, versuchte sich einzubilden, dass es einfach Zuckerwatte sei, die nicht schmolz, so wie er es immer erträumt hatte. Sie schrumpfte ihm stets im Mund zu schnell zusammen. Nicht einmal Zucker hatte er mehr in seiner Wohnung. Er schluckte.
    Zwischen zwei Teppichen befand sich eine Lücke, wie einen Vorhang schob er die beiden auseinander, wühlte und wühlte, drängte und stieß beiseite, was ihm störend erschien, bis er glaubte, genug Platz unter dem Haufen zu haben, dann kroch er hinein unter seinen schützenden Berg, wie eine Raupe, in Seide eingesponnen, eingeholzt in seinem Firmament aus Kleidung, dem

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