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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
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Stift, zog ein paar Linien und legte Anatols durchgestrichenes Gesicht auf einen Stapel. Papier – das magische Mittel gegen die Unsterblichkeit. Sein Leben, die Bescheinigung seines Lebens lag da hinter dem Glas, oder die Bescheinigung seines Todes. Er musste das eine finden oder das andere vernichten und er sprang, sprang auf das kleine Pult vor ihm, sprang über das Glas, und der Beamte rief nach dem Wachpersonal und Anatol hatte zugebissen, ein Ohr hatte er mit den Zähnen zu fassen bekommen und in den Hals hatte er gebissen, hungrig war er und die Wut war hungrig, das Ohr schluckte er ganz hinunter, hatte noch einen Stapel Akten gegriffen, und hatte nun, weil seine zuvor so unstillbar knurrende Wut nun wohl doch gestillt war und es ihm an Kraft fehlte und er zudem die Akten in der Hand hielt, Schwierigkeiten, zurückzuklettern. Sein Rektum tat bei der Kletterei schrecklich weh. Nach dem Beamten sah er sich nicht mehr um, rannte, bevor das Wachpersonal den Saal erreichte, zum Lift, drückte den Mondknopf. Der Lift gab ein knackendes Geräusch von sich, als er ausstieg und auf dem Dach angekommen war.
    Nur wusste er nicht: Wohin von hier? Wie die Schaben wissen, kommt einen niemand retten, wenn ein Schuh auf einen zukommt oder ein Glas. Man würde ihn doch nicht einsperren können, jemanden, der tot war, den man auf keinem Formular vermerken konnte und wollte, und zahlen, um zu gehen würde er auch nicht. Sie würden ihn nicht einsperren können, dachte er, nach einem Weg von dem Dach suchend. Auf einer Seite fand er nun endlich die Feuerleiter, warf die Akten voraus und begann zu klettern, die zu weite Hose rutschte ihm vom Hintern und als er am Ende der Feuerleiter ankam, war er enttäuscht, denn sie hatte ihn nicht zum Boden geführt, sondern nur fünf Meter weiter heran. Sie würden ihn vielleicht töten wollen. Ein unschöner Gedanke, obwohl er das Sterben bereits hinter sich hatte und es nur neu wäre, nicht mehr zu sein. Die ganze Welt war so schwer mit ihm, so graviationsgefüllt, und er wusste, er würde wohl für immer am Boden kleben bleiben, oder hier in der Luft hängen, mit nacktem Allerwertesten und Čelobaka, der Ärmste, würde vergeblich warten.
    Man pflückte ihn von der Leiter. Die Feuerwehr pflückte ihn, wie unreifes Obst, das sich wehrte. Die Milicionäre warteten schon auf ihn. Bei Wasser, Brot und Kakerlaken würde man ihn einsperren, würde man doch, weil man nichts Besseres wusste, und er hatte gar keine Zeit, sich in der grauen finsteren Kammer auf der Station umzusehen, da stellte man ihm etwas Krautsalat hin, grünes Gewürm, das fast kriechen würde, wenn es könnte, und nahm ihm die Schüssel auch gleich wieder weg. Der Milicionär blieb kurz stehen, dann griff er auch den Wasserbecher, auch zu trinken hatte Anatol also nichts, und man warf ihn schneller auf die Straße, als er sich darüber ärgern konnte, wieder nichts zu essen bekommen zu haben. Man konnte ihn wohl nicht einsperren und durchfüttern, denn er hatte keinen Namen und kein Leben, nur einen Körper hatte er. Natürlich hätte er nicht ins Gefängnis gewollt. Alles, was er von den Gefängnissen wusste, war, dass sie sich kaum von den alten Gulags unterscheiden sollten. Aber einige Tage auf der Station, bis die Milicionäre bemerkt hätten, dass er weder dokumentierbar war noch zahlungsfähig, hätten ihm vielleicht sogar gut getan. Sie hatten ihn aus dem Käfig geschmissen. Anatol kannte keinen anderen Weg als die Straße zurück. Ob er überhaupt je weiter gekommen war als nach Kiev, wusste er auch nicht mehr. Er würde zurückkehren, zurückkehren müssen, musste sich erinnern, zu welchen Bekannten er gehen konnte. Jemand musste ihn erkennen dort in Odessa, damit er diesen Jemand als Zeugen nach Kiev bringen könnte. Zurück ans Meer, zwischen die augenlosen Fischköpfe auf den Trottoirs und stierenden Kinder in den Fenstern, musste er gelangen, wie er nach Kiev gelangt war.

XX
    А то, давайте пpосто голыми,
Пойдем на танцы иль в кино,
Слыхал я, что на кpайнем Западе,
Все ходят голышом давно.
    ДДТ
    Als Anatol und Irina einander wiederbegegneten, verhielten sie sich wie Unbekannte, denn Anatol glaubte sich wie ein Geist verhalten zu müssen, da Irina wissen musste, dass er tot war, und Irina meinte, dass dies nicht Anatol sein könne, schließlich hatte sie gesehen, wie er nicht aus dem Grab gestiegen war. Doch wie immer ist es

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