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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
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schwierig, etwas Nichtgeschehenes zu belegen. Aber natürlich hätte man einfach aneinander vorbeisehen können, übereinander hinwegsehen – zwei Menschen, die die Welt nicht wollte. Zudem war sie eine andere Irina, es war ihre Neugeburt, nicht mehr die Alchimistin, die sie vorher gewesen sein konnte, sie würde es aus ihrer Haut schaffen, alles gerade so nicht zu machen, wie sie es immer gemacht hatte. Alles ins Gegenteil zu verkehren. Allein dass sie eine Entscheidung getroffen hatte, machte eine neue Person aus ihr, die nur noch zufällig vom Aussehen her unglaublich Irina Sergejevna ähnelte. Die Doppelgängerin hatte sie nicht in der Wohnung angetroffen, war dafür selbst zu einer Doppelgängerin geworden und fragte sich, vor den Gegenständen, die ihre Existenz bisher ausgemacht hatten, wie viele es von ihnen wohl noch geben mochte, bald eine weniger, beruhigte sie die Wogen im Kopf, die das verursachten. Sie hatte ihre Reagenzgläser und Pipetten, genauso wie ihre Schuhe, auch das schöne rote Paar, gut, dass sie nie mehr tanzen musste, ihre Pullover und Blusen, ihren Fön, ihre Bürste, ihren Teekocher genauso wie die Kaffeekanne vor sich auf einer Kunststoffplane aufgebahrt, das einzige Kuscheltier, das sie noch aus ihrer Kindheit hatte, das Erste, dessen Plüsch schon so abgewetzt war, dass man unter dem Stoff die blassbunte Schaumstofffüllung sehen konnte. Niemand hätte sagen können, was für ein Tier es war. Sie beobachtete die anderen Verkäufer, sie verkauften sowjetische Offizierstaschen, Socken, Gehäkeltes, alte gestickte Bilder, geschundene Ikonen.
    Was für eine Sünde es doch war fragen zu können »Wie viel kostet Lenin?«, und auf eine der Büsten zu zeigen. Sie freute sich in diesem Moment geradezu, dass ein Geldautomat ihre Kontokarte gefressen hatte, sie musste dann nur noch das Geld loswerden, das man ihr hier geben würde. Metallisch glänzende Anstecknadeln und Comichefte. Geradeaus verlangte sie fünf Grivna für jeden Gegenstand, für die Kochtöpfe genauso wie für den Aktenschrank, dessen Inhalt sie schon in einen der großen blauen Müllcontainer versenkt hatte, schwimm schön, Forschung, hatte sie ihren Versuchsreihen hinterhergewinkt.
    Sie sei nie da gewesen, würde sie sagen, wenn sie ihre Wohnung zum letzten Mal verließ. Dieses Gerümpel hatte ihr im Kopf gejuckt. Auf dem Rückweg hatte sie geträumt, dass die Gegenstände, die nutzlosen Särge ihrer Tätigkeiten, Wanzen wären, die sich in ihrem Gehirn festgesetzt hätten, große rote Wanzen, und sie müsse den Kopf rasieren, dann erst war das juckende Getier zu sehen, und woher sie kamen, aus einem Loch am Hinterkopf, leuchtende Parasitenkäfer, wie Feuerwanzen, Menschenwanzen, Gehirnwanzen, eine teuflische Kreuzung, und wenn es außer ihr jemand sähe, jemand wüsste, dann würden alle denken, dass es dreckig wäre, das kahle Mädchen mit dem Wanzenloch im Kopf, in das sie versuchte Gift zu tröpfeln, drei- bis fünfmal täglich, bis keine Wanzen mehr herauskriechen würden. Und die zerquetschten, die über Nacht herauskrabbelten, kratzte sie vom Kopfkissen. Der kleine sanduhrförmige Kunststoffhocker, sogar der Duschkopf, alles für fünf Grivna, alles aus ihrer Wohnung, aus ihrem Kopf. Das Wichtigste war für sie, dass sie den Computer loswerden konnte. Auch wenn sie alle Aufzeichnungen handschriftlich begann, später trug sie diese ein und selbst längst Weggeworfenes blieb in diesem Universum hinter dem Bildschirm hängen. Vielleicht fehlerhaft und nur teilweise, aber viel zu lange.
    Anatol dagegen hätte den Kopf gerne mit Gegenständen gefüllt, denn er schien ihm zunehmend hohler, von primitiven, stumpfen Gedanken beherrscht, und Irina hätte sich kaum gewundert, dass sie Schwierigkeiten hatte, ihn als ihren Anatol zu erkennen, wäre ihr klar gewesen, dass er selbst nicht wusste, wer er war. Gerade war das Einzige, was ihn beherrschte, der Gedanke, den schmerzenden Zahn endlich loszuwerden, der Zahn pochte und er wusste nicht, ob es daran lag, dass man ihm bei der Milicija in Kiev ins Gesicht geschlagen hatte oder daran, dass sein Zahnfleisch an mehreren Stellen im Mund entzündet war, Entzündungen, die von seinen Nahtwunden ausgingen. Das schmutzig silbern glänzende Zahnarztinstrumentarium war es, das ihn in Irinas Nähe lockte, es war der Verkäufer, der seine Waren ihr gegenüber auf einer alten Überdecke aufgebreitet hatte. Sie konnte Anatol erst nur von hinten sehen und lächelte, denn sie dachte, dass wenn

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