Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
Tür wartete, fürchtete aber auch, dass er schon wieder davongelaufen sein könnte.
Anatol zog das Blatt Papier, das er bei der Milicija bekommen hatte, hinten aus dem Hosenbund, der Mann auf der anderen Seite des Glases blickte endlich auf und war sichtlich angewidert über den Aufbewahrungsort von Anatols einzigem Dokument.
Der Mann schob seine Brille, ein klassischer Staatsangestellter offenbar, dachte Anatol, bis zur Nasenwurzel hoch, nahm das Blatt durch die Durchreiche und fragte nach Namen und Anliegen, und da hatte Anatol gerade erst den Namen genannt und der Mann hatte etwas in seinen Computer getippt, offenbar ein altes Gerät, und Anatols weitere Erklärungen, während der Computer knurrte, mit einer Handbewegung unterbrochen.
»Anatolij Grigorjevič Ivanov? Geboren am 22. Mai 1988? Wohnhaft in Odessa?« – »Ja, richtig.«
»Hier steht, Sie sind tot. Verstorben 31. August. Hier steht: Unvorhergesehen durch Hinschied abgegangen und nicht mehr lebhaft.«
»Ja, eben!«
»Ja, eben?«
»Sie sehen doch, dass ich hier stehe.«
»Schauen Sie, Anatolij Grigorjevič, oder vielleicht auch nicht Anatolij Grigorjevič, so einfach ist das nicht. Sie könnten schließlich auch ein anderer sein. Zeigen Sie Ihren Ausweis.«
»Nun, wissen Sie, der ist abhanden gekommen, aber ich bin mir sicher, Sie haben in Ihren Unterlagen noch von der Erstellung meines Passes ein Foto. Nicht?»
»Abhanden gekommen?«
»Da ist doch ein Foto. Haben Sie kein Foto?«
»Natürlich ist hier ein Foto, aber das bedeutet doch längst nicht, dass sie nicht ein anderer sein könnten.« Ohne das Foto anzublicken, fasste der Mann sich wieder an die Brille.
»Schauen Sie sich das Foto doch an, selbstverständlich bin das ich, auf dem Bild.« Doch gerade als der Beamte sich dazu herabließ, das Foto auf dem Bildschirm doch näher zu betrachten, bemerkte Anatol sein eigenes Gesicht in der Spiegelung des Glases, das ihn von dem Mann trennte. Er sah vermutlich kaum mehr aus wie auf dem Foto, das bereits fünf Jahre alt war. Als wäre er in den letzten Tagen noch fünfzehn zusätzliche gealtert, so sah ihm das Spiegelbild entgegen. Vater und Mutter hatte er nie ähnlich gesehen, auch nicht den Großmüttern und Großvätern, und wenn die Mutter, wie er immer geglaubt hatte, den Vater, wie dieser gesagt hatte, nie wirklich geliebt hatte, dann hatte Anatol sich früher eine Geschichte vorgestellt oder vielleicht auch nicht, vielleicht erfand er sie gerade in diesem Moment, in der die Mutter sich in jemanden verliebte, der Anatol ähnelte und er wunderte sich nicht darüber. Doch gerade ähnelte er sich selbst kaum.
»Gewisse Gemeinsamkeiten gibt es da schon. Dennoch: Sie könnten ja auch ein Doppelgänger sein, oder jemand, der dem bedauerlichen verschiedenen Anatolij Grigorjevič Ivanov einfach ausgesprochen ähnlich sieht. Menschen sind ja doch wie Kakerlaken, sie sehen alle gleich aus.« Der Beamte schüttelte den Kopf, blickte Anatol gerade ins Gesicht und dieser war sich nicht sicher, ob er etwas suchte, das bestätigen konnte, dass er Anatol Grigorjevič sei, oder etwas, das bestätigte, dass er es nicht sei. Ein Doppelgänger, warum sollte ein anderer Anatols erbärmliches, finanziell und sozial bei Weitem nicht reiches Leben stehlen? Anatol blickte sehnsüchtig durch die Scheibe – dahinter saß jemand, der Leben und Tod auf dem Papier hatte.
Der Beamte blickte wieder auf den Bildschirm:
»Hier steht: Blaue Augen.«
»Ja, schauen Sie, blaue Augen, hab ich doch.« Anatol lächelte bereits triumphierend.
Der Beamte streckte das Kinn vor, streckte sich im Sitzen sogar ein bisschen, um Anatol besser betrachten zu können: »Nein, Sie, Gospodin, haben ein blaues und ein braunes.«
»Ein braunes?« Anatol schüttelte den Kopf.
»Ja, ein braunes, das linke Auge ist braun.« Nun war es der Beamte, der triumphierend lächelte, was für ein Zähnefletschen, dachte Anatol.
Und Anatol begann dem Mann auf der anderen Seite gegenüber Wut zu empfinden und ihm zugleich klarzumachen, dass das Auge entzündet gewesen war und es wohl daher kommen müsse, doch der erwiderte nur: »Augenentzündung, das kann jeder behaupten. Da könnte ja gleich jeder kommen und sagen, dass er Anatolij Grigorjevič Ivanov sei.« Kurz herrschte Stille zwischen den beiden, dann reichte der Beamte ihm seinen Totenschein wieder und meinte: »Ich denke nicht, dass ich der richtige Ansprechpartner für Ihr Problem bin, vierter Stock, dritte Tür rechts.« Und schickte
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