Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
Vom Netzwerk:
Anatol mit einer wedelnden Handbewegung fort. Er hatte sich das alles einfacher vorgestellt, und als er auf den Lift langsam zuwankte, fühlte er sich wie gefangen zwischen dem Moment des Schlafes und jenem des Wachseins, in dem nicht klar ist, ob das nun wirklich gerade geschah, so wie damals, als er ein Kind war und sein Cousin ihn in den Schrank gesperrt hatte und ein Lichtstrahl zwischen den Türen alles war, was ihm versicherte, dass die Nacht noch nicht angebrochen war. Denselben Lichtstrahl erkannte er zwischen den Türen des Aufzugs. Zum Mond dachte er, drückte aber doch den Knopf zum vierten Stock. Im Amt gab es eigene Uhren, andere Stunden, andere Tage, Monate und Jahre. Einen kultischen, mystischen Kalender, der mit der Drehung und Umlaufbahn der Erde nichts zu tun hatte. Da war doch ständig Nacht unter den Halogenlampen. Er betrachtete das Stück Papier in seinen Händen, er lächelte. Wie kann auch jemand so dämlich sein und in der Badewanne ersaufen – erst dann bemerkte er, dass es sein Totenschein war, sein Name auf dem Dokument stand. Diesmal musste er, so glaubte er jedenfalls, weniger lange warten. Der Mann hinter dem Schalter war wesentlich jünger als der Erste, er musste etwa in Anatols Alter sein. Blickte auf das Foto, sah Anatol an, begann zu lachen. Ein magerer Mensch, dessen Kleidung unter seinem Lachen nicht einmal zitterte, so weit schien sie vom Körper entfernt zu sein. Wie es denn komme, dass Anatol noch am Leben sei, fragte er, und Anatol meinte: »Nicht noch, schon wieder.«
    »Schon wieder? So?«, der Magere begann unter dem Hemd wieder zu lachen.
    »Vor zwei Tagen am Friedhof aufgewacht«, antwortete Anatol, nicht wissend, woher die Antwort gekommen war.
    »Außerhalb des Grabes? Ha! Vor zwei Tagen?« Anatol nickte bestätigend. »Drei Tage im Grab? Eine richtige Auferstehung haben wir hier. Hey, Maksim«, er rief den Mann am Nebenschalter: »Wir haben hier einen Auferstandenen. Ausweis bitte.« Doch Anatol schüttelte den Kopf. »Haben Sie denn dann wenigstens Zeugen mitgebracht, die bestätigen können …«, fuhr der Mann fort, doch Anatol schüttelte wieder den Kopf, aus dem Kopfschütteln kam er kaum heraus. Woher sollte er auch hier in Kiev Zeugen nehmen?
    Wieder lachte der Mann, meinte, dass man ihm gewiss helfen könne, jedoch nicht in seiner Abteilung, er solle in den zweiten Stock gehen. Wie kopflos, dachte Anatol, wie leicht muss er von seiner Mutter zu gebären gewesen sein. Doch hinter der Scheibe bestand man unter Gelächter darauf, dass er wieder zurückkehrte. Sie seien nur zuständig für falsch ausgestellte Dokumente, nicht aber für richtig ausgestellte, die revidiert werden müssten. Oh, die Staatsbediensteten, Anatol knurrte auf dem Weg zum Lift.
    Nun hatte er wieder die Uhr im Blick, Čelobaka saß, falls er ihm nicht den Rücken gekehrt hatte, bereits dreieinhalb Stunden vor der Tür. Und wieder wartete Anatol geduldig in der Schlange, und es war bereits kurz vor Dienstschluss in dem Gebäude, hinter ihm wartete niemand mehr. Als er nun wieder vor dem ersten Beamten stand, sie waren nur mehr zu zweit in dem Raum, der seine Angelegenheit zuerst betrachtet hatte, nahm dieser zwar schneller Notiz von seiner Anwesenheit, wühlte aber, statt Anatols Papier zurückzunehmen und über weiteres Vorgehen zu sprechen, in einem Stapel Akten, als könnte er in all den Zetteln und Bittgesuchen einen Körper finden, Anatols Leiche möglicherweise: »Wir machen keine Fehler, sehen Sie.« Und Anatol meinte, dass er nie behauptet habe, dass sie einen Fehler gemacht hätten, aber dass er eben sein Leben – »Oder das eines anderen«, unterbrach ihn der Beamte – zurückhaben wolle. »Meines!« Anatols Lautstärke und der Schlag mit der Faust gegen die Glaswand hatten den Mann zusammenzucken lassen. Anatol würde, wenn er müsste, seinen Namen auf all die Formulare spucken, all die Formulare, unter denen sein Leben zu finden sein müsste. Doch der Beamte wollte keinen Namen auf Formulare eingetragen sehen: Jetzt gerade versuchte er die Fronten zu begradigen. »Sehen Sie«, sagte er, »sehen Sie, den Tod bekommt man zum Preis eines Butterbrots – das Leben: es müsste schon Kaviar sein.« Anatol schüttelte den Kopf. »Fünfhundert Dollar.« Anatol schluckte. Er hatte nicht einmal fünfzig Kopeken für eine Auskunft. Für den Zucker im Tee kann man beim Staat mit dem Kopf bezahlen. Der Beamte nahm den Ausdruck, den Anatol von der Milicija hatte, wieder zurück, griff einen

Weitere Kostenlose Bücher