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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
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ein so mageres Männchen wie dieses, das sie durch die Kleidung erkennen konnte, so weite Sachen trug, war sie nicht die Einzige, die sich häutete, nur dass sie keine neue Haut benötigte. Sie war nackt unter der Kleidung und würde es bleiben. Anatol besah die kleinen, runden Spiegelchen an den Stäbchen, die Röhrchen und Zangen, und da er immer noch kein Geld hatte – woher hatte er es früher gehabt? Hatte er ein Konto gehabt?, er wusste es nicht –, griff er nach einer Zange, die ihm passend schien und setzte sie – der Verkäufer folgte seiner Handbewegung mit weit aufgerissenen Augen, aufgerissene Augen, die einzig sichtbar waren in dem stark behaarten Gesicht – an den Zahn am Unterkiefer, seitlich, der ihn so quälte, um ihn zu ziehen. Dabei drehte er den Kopf und Irina wunderte sich, ein unschönes Wunder, denn für einen Moment, und in ihrer Annahme dauerte die Gegenwart entsetzlich lange, glaubte sie, dass alle Grundvoraussetzungen für ihr Handeln, dem sie nun folgte, für ihre Befreiung von Besitz und Besessenheit, falsch waren. Aber sie hatte gesehen, dass sich das Wasser im Grab nicht bewegt hatte, dass sich Tolik, den sie hatte aufwecken wollen, wachküssen, mit Stromschlägen wie Paukenmelodien aus der Unterwelt locken, nicht gerührt hatte. Er trug zwei verschiedene Augen zum müden Gesicht. Ein gruseliges, halb tierisches monströses Vieh war er, das aus Angst vor dem Zahnschmerz den abrupten Schmerz, sich selbst zu operieren, nicht fürchtete. Das Blut troff ihm aus dem Mund, der Verkäufer der alten Zahnarztutensilien begann zu zetern und zu schreien, Anatol warf den blutigen Zahn mit der blutigen Zange auf den blutigen Gehweg. Er wankte, das Pochen im Mund hatte einen Moment lang aufgehört, setzte jetzt aber im Rhythmus seines Pulses wieder ein, während ihm mehr und mehr Blut über die Lippen floss. An den Schläfen, am Hinterkopf, überall fühlte er diesen Puls und eine Betäubung, er streckte die Arme nach beiden Seiten aus, um zu balancieren – eine Kompassnadel neben einem Magneten war sein Kopf, zitternd und kreisend. Er wankte die Straße entlang, hielt sich kurz an einem Baum fest, jede Straße hier am Flohmarkt sah gleich aus, mehrere Quartale weit nur Menschen, die ihren alten Plunder abstoßen wollten, jeder Weg gesäumt von veralteten Gegenständen. Fast wäre er in die Schallplatten gestürzt, hielt sich aber noch, wenn auch seine Knie, insbesondere das geschwollene, schwach waren und zitterten, als wäre der heiße Sommer kalt.
    Irina ließ die Kopfwanzen zurück, folgte ihm, in einem angemessenen Abstand, denn sie war beinahe sicher, dass er ein Doppelgänger sein müsse, somit war sie nicht allein damit, dass es sie zweifach gab. Sie folgte ihm, wie der Gedanke an ihn sie bislang verfolgt hatte. Das lebendige Abbild ihres Versagens. Sie hatten das Viertel, in dem sich der Starokonij befand, bereits an der wochenendlichen Haustierausstellung, wo die Züchter ihre Hunde und Katzen in den Kofferräumen ihrer Autos präsentierten, vorbei verlassen. Anatol wusste keine tatsächliche Richtung außer vorwärts, hätte er doch nur seinen Hund, seinen Čelobaka. Anstatt eines Seufzers, wie er gewünscht hatte, denn ein tiefes Seufzen hatte bislang immer verursacht, dass ihm leichter war, schluckte er Blut. Lange dauerte es, bis er Irina bemerkte, und obgleich er ihr Gesicht nicht zuordnen konnte, nicht so schnell, wie er hingeblickt hatte, sich nur eine Sekunde umdrehend nach ihr, hatte ihr Gang, hatten ihre Schritte einen vertrauten Klang. Sie würde vermutlich wissen, dass er tot war. Wenn nun selbst er es wusste, müsste wohl jeder, der ihn kannte, Bescheid wissen, sie müsste ihn für eine Fantasiegestalt halten, für ein Gespenst. Und erstmals begriff er, warum ihm jeder bislang begegnete, als wäre er kein Mensch: Weil er kein Mensch sein konnte. Jenseits des Leichnams. Er versuchte also zu hören, ob auch seine Schritte einen Klang hatten, obwohl das Blut in seinen Ohren rauschte, er verlangsamte sein Tempo, und Irina, von der er nicht einmal wusste, dass sie Irina hieß, aber das hatte er auch nie gewusst, was aber ebenso zu den ihm unbekannten Tatsachen gehörte, kam näher.
    Die körperliche Schwäche war ihm anzusehen, daher entschied Irina, ihn mit in ihre Wohnung oder die Wohnung der anderen, diesen leer geräumten Hohlraum zu nehmen, und ihm zu helfen, so dreckig und zerschunden er auch aussah, war er doch, was Anatol bislang am Ähnlichsten war, er würde

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