Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
sagen.« Und anstatt ihm zu antworten: Die Wunden werden verheilen, aber langsamer, denn der Organismus hat Schaden genommen, sagte sie: »Alles wird gut.« Und anstatt zu erklären: Dein Gedächtnis kann schwächer oder stärker werden, Erinnerungen wiederkommen oder verloren gehen, sagte sie: »So etwas passiert einfach.« Und anstatt ihm klarzumachen, dass eine ganzheitliche ärztliche Untersuchung ratsam wäre, flüsterte sie: »Wir sollten schlafen.« Nur um ihm nicht sagen zu müssen: Wenn du Anatol Grigorjevič Ivanov bist, dann ist all das mit deinem Kopf und Körper geschehen, dass du kaum wiederzuerkennen bist, dich kaum wiedererkennst, durch meine Schuld.
Anatol stand auf und verharrte neben ihr, als sie die Sitzfläche des Diwans mit einem Ruck nach vorne zog, die Lehne nach unten drückte, und er verharrte weiter, als sie sich die drei Schritte zum Schrank bewegte, um die Bettsachen hervorzuholen. Er verharrte auch, als sie den Gürtel aus den Schlaufen zog und sich aus der Hose schälte, den Pullover behielt sie an. Er verharrte, als sie sich hinlegte, unter die ausgebreitete große Decke kroch und sich unter sie an den Rand des Bettes, nah an die Wand schob. Auch als er begriffen haben sollte und bereits bemerkte, dass er begriffen haben sollte, dass sie für ihn Platz gelassen hatte, verharrte er immer noch einen Moment lang in seiner Position, drehte sich kurz um, als suchte er nach Čelobaka, löste sich dann aber doch aus Hose und Hemd und wunderte sich fast ein bisschen darüber, dass er selbst darunter war, auch wenn er sich nicht sehen konnte, wünschte, und bei diesem Wunsch blickte er sich nach der Straßenlaterne um, dass sie, Irina, auch wenn er ihren Namen nicht wusste, ihn sehen könne, ohne die zu große clownshafte Kleidung. Damit ihn immerhin noch irgendjemand gesehen hätte, wie er war. Die Laterne strengte sich jedoch kein bisschen mehr an, ihm einen Gefallen zu tun, so kroch er auch unter die Decke, ließ noch so viel Abstand zwischen ihnen beiden, dass nicht nur die Grenze zwischen Sitzfläche und Lehne ihre Symmetrie bestimmte, sondern die breite Decke sich in der Mitte zu dieser Grenze völlig absenkte. Sie lagen beide ganz am Rand. Die Luft war nächtig, übernächtig, wie Anatols Augen, die unter den Lidern schmerzen. Anatol wünschte sich, dass wenigstens in dieser Nacht die Hunde nicht bellten, weil er dann stets glaubte, dass sein Čelobaka kam oder ging und er fürchtete, dass es, nachdem er ja gerade zugegen war, dann wieder Zeit wäre zu verschwinden.
Irina verharrte, wie in Schreckstarre, wie im Totstellreflex, sie wartete ab, sie lauerte, sie konnte den Geruch wahrnehmen, den Anatol verströmte, er roch nicht so, wie sie sich Toliks Geruch vorgestellt hatte. Sie hatte gedacht, dass der Geruch mit der Kleidung, die ihr an ihm doch auch fremd vorgekommen war, verschwinden konnte. Sie hatte Angst, einzuschlafen, würde sie zu lange warten. Näher war sie Tolik bislang nie gekommen. Vielleicht war Tolik, ihr Tolik, jener, den sie aufwecken wollte, noch am Friedhof und die Totengräber hatten ihn zurück ins Grab geworfen und ihn endlich, wie sie es gleich hätten tun sollen, mit Erde überhäuft. Nein, es musste Tolik sein, auch wenn er bis jetzt kaum ein Wort gesprochen hatte und mit den fröhlichen Ausrufen, Pfiffen und Scherzen von vor wenigen Tagen noch wenig zu tun zu haben schien. Wenn er es nicht war, würde sie es immerhin nicht wissen müssen, denn sie war bedacht genug gewesen, das Licht nicht einzuschalten. Sie verharrte und wusste nicht, wie lange sie würde verharren müssen. Sie verharrte und dachte, wie einfach es doch wäre, würde er näherrutschen und einen Arm um sie legen. Sie verharrte also, um darauf zu warten, oder auf sich selbst. Sie war müde, es hatte sie angestrengt, ständig in Bewegung zu sein. Lange würde sie nicht mehr geduldig sein können. »Mir ist kalt«, flüsterte sie und Tolik brummte nur. Natürlich war es nicht kalt im Zimmer, es war zwar noch unbeheizt, aber die Fenster waren mit isolierendem Klebeband gegen das Draußen gewappnet. Das Zimmer hatte die Sommerwärme noch behalten. Offenbar schlief er schon halb. Warum sollte er auch weniger erschöpft sein als sie? Natürlich fror sie nicht, sie hatte schließlich den Pullover anbehalten, sie schimpfte insgeheim auf den Pullover und darauf, dass sie ihn nicht ausgezogen hatte, fluchte auf sich selbst und ermahnte sich, denn fluchen soll man nicht. Es roch nach Chlor, nach Chemie,
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