Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
Schein des Korridorlichts, das so spärlich Trapeze an die hellen Wände warf, kletterte langsam ein Tausendfüßler neben Stanislav Richtung Boden. Eine Ritze würde er sicher finden, um in den Untergrund zu gelangen. Die restliche Nacht blieb ereignislos. Stanislav schlief nicht, zumindest war er, als es langsam hell wurde, sicher, nicht geschlafen zu haben, denn Hals und Ohr pochten zu stark und er hatte die ganze Nacht gefürchtet, dass der Tausendfüßler sich in sein Bett verirren könnte und ihn beißen, und nicht einmal gegen so ein kleines Tier hätte er sich gerade wehren können. Immerhin war kein Hund hierhergekommen.
Eine Krankenschwester, ihre morgendliche Schicht hatte vermutlich gerade angefangen, steckte den Kopf zur Tür herein, dachte wohl, Stanislav würde schlafen, sie trug die übliche Kopfbedeckung, die sich seit den Sechzigern in ihrer Art nicht geändert hatte, diese kleinen weißen Käppchen mit den Flügelchen seitlich. Und Stanislav presste schnell die Frage hervor, wann denn ein Arzt komme, doch sie zuckte nur die Schultern und schon war sie wieder verschwunden. Das hatten die Krankenhäuser und Ämter gemeinsam: Neben ihre Zeitreisefunktion waren Auskünfte niemals kostenlos. Aber er wusste nicht, wo seine Kleidung, ergo sein Portemonnaie war, demzufolge wusste sie wohl, dass sie ihm den Preis der Auskunft, er nahm an, zwanzig Grivna, wie alles in Krankenhäusern, nicht zu nennen brauchte. Üblicherweise bezahlte man einfach und ging heim ins richtige Jahrzehnt.
Wieder lag Stanislav ruhig, die Augen durch den Raum kreisen lassend, ob der Tausendfüßler wiederkäme, doch wie lange er auch so gelegen sein mochte, wusste er nicht, er hatte keine Uhr im Blick. Endlich kam der Arzt, der, obwohl er nur zwei Beine hatte, schneller aufgetaucht war als das beunruhigende Krabbeltier. Er hatte nach einem Klemmbrett gegriffen und laut vorgelesen: »Bisswunden an Hals und Kopf und überlebter plötzlicher Herztod.« Ein Glück, dachte Stanislav noch, denn dem Herztod zu erliegen war keine schöne Sache, gerade wenn man den Anlass besah. Stanislav wollte schließlich einmal an etwas Ordentlichem sterben und an nichts Lächerlichem: beim Retten eines Babys überfahren, oder bei einem Flugzeugabsturz. Zwei Dinge waren bereits auf seiner Liste an erbärmlichen Todesarten, denen er entgangen war: an einem Kotstein am Klo zu verenden und von einem Toten gebissen zu werden. Er hätte fast zufrieden genickt, dass er es noch einmal geschafft hatte, wäre Nicken nicht eine Angelegenheit gewesen, die gerade mit allzu viel Weh verbunden war. »Die Sache ist nun die«, fuhr der Arzt fort, »dass Ihre Mitarbeiterin Aleksandra Vladimirovna angegeben hat, welcher Versicherung Sie zugehörig sind. Eine tatsächlich nicht allzu schlechte Versicherung, denn diese Versicherung übernimmt aller Information nach, wenngleich nicht alle Kosten, dann doch immerhin Ihren Aufenthalt.« Saša, dachte Stanislav, die gute Saša. Sie hatte ganz sicher auch die Geldbörse an sich genommen. Niemals würde sie in irgendeiner Sache fahrlässig handeln. Eine ihrer schätzenswertesten Eigenschaften war es, dass sie nicht dahinschusterte in ihrem Leben, wie es viele taten und auch das Eigentum anderer respektierte. Eine gute Frau. Eine ausgezeichnete Frau sogar. Sie waren sogar einmal nach der Arbeit in ein Café gegangen, aber Stanislav hatte nicht den Mut gefunden, den er gebraucht hätte, etwas Engeres in die Wege zu leiten. Er hatte noch nie diesen Mut gefunden. Er wusste nicht wie und er wusste gar nicht, wo er danach suchen sollte. Vielleicht hatte er derlei Mut gar nicht, was die Angst in ihm schürte, einmal eine grässliche Ehefrau zu bekommen, die zwar selbst diesen Mut hätte, aber sonst eher ein zerstörerisches Wesen war. Ja, Saša war eine von den Guten. Er seufzte beruhigt. Doch der Arzt hatte nicht zu Ende gesprochen: »Jedoch ließ uns die Versicherung heute früh mitteilen, dass laut ihren Unterlagen, Sie, Ihr Name ist doch Stanislav Nikolajevič Kučer?« – und da Stanislav nicht nicken konnte, presste er ein krächzendes »Ja« hervor – »… gestern verstorben sind.« Stanislav blickte den Arzt ungläubig an. »Selbstverständlich betrachtet die Versicherung es als unnötig, für einen bereits Verstorbenen einen Krankenhausaufenthalt zu bezahlen, zudem hatten die Mitarbeiter der Versicherung bereits befürchtet – und wir sind eines der seriösesten Krankenhäuser des Landes, derart Inadäquates kommt bei uns
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