Der Prediger von Fjällbacka
es so kommen würde. Du wußtest ja, daß er schwach war. Daß er sensibel war. Er ertrug die Schande nicht und hängte sich auf, und es würde mich nicht wundern, wenn du genau damit gerechnet hast, als du bei der Polizei anriefst. Du konntest es nicht ertragen, daß Ephraim ihn mehr geliebt hat.«
Solveig stieß ihm mit dem Finger so heftig gegen die Brust, daß er bei jedem Stoß nach hinten gedrückt wurde. Er stand bereits mit dem Rücken gegen das Fenster gedrängt und konnte nicht weiter entfliehen. Er war gefangen. Mit den Augen versuchte er Laine zu signalisieren, daß sie etwas gegen diese unbehagliche Situation unternehmen sollte, aber wie üblich stand sie nur da und glotzte völlig paralysiert.
»Mein Johannes wurde immer mehr geliebt als du, von allen, und das konntest du nicht ertragen, oder?« Sie erwartete keine Antwort auf ihre Behauptungen, die als Fragen maskiert waren, und setzte ihren Monolog fort. »Selbst als Ephraim Johannes enterbt hatte, liebte er ihn noch immer mehr als dich. Dir hat er den Hof und das Geld gegeben, aber die Liebe deines Vaters konntest du niemals bekommen. Obwohl du derjenige gewesen bist, der alles für den Hof getan hat, während Johannes es sich gutgehen ließ. Und als er dir dann dein Mädchen weggenommen hat, war das der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, stimmt’s? War das der Moment, wo du angefangen hast, ihn zu hassen, Gabriel? Hast du da angefangen, deinen Bruder zu hassen? Sicher, es war vielleicht ungerecht, aber das gab dir nicht das Recht, das zu tun, was du getan hast. Du hast Johannes’ Leben vernichtet, und meins und das der Kinder dazu. Glaubst du etwa, ich weiß nicht, was die Jungs treiben? Und das ist deine Schuld, Gabriel Hult. Endlich werden die Leute sehen, daß nicht Johannes das getan hat, wovon sie die ganzen Jahre geflüstert haben. Endlich werden die Jungs und ich wieder hocherhobenen Hauptes durch den Ort gehen können.«
Ihre Wut schien endlich zu verebben, und statt dessen kamen die Tränen. Gabriel wußte nicht, was schlimmer war. Einen Augenblick lang hatte er in ihrem Zorn ein Bild der alten Solveig aufblitzen sehen. Der anmutigen Schönheitskönigin, die zur Verlobten zu haben ihn so stolz gemacht hatte, bevor sein Bruder kam und sie ihm wegnahm, wie er auch alles andere, was er haben wollte, einfach nahm. Doch als die Tränen ihren Zorn endgültig abgelöst hatten, war es, als würde Solveig wie ein Luftballon punktiert, und er sah wieder nur das fette, ungepflegte Wrack, das seine Tage in Selbstmitleid verbrachte.
»Mögest du in der Hölle brennen, Gabriel Hult, zusammen mit deinem Vater.«
Sie flüsterte die Worte und verschwand dann genauso schnell, wie sie gekommen war. Zurück blieben Gabriel und Laine. Er verspürte einen Schock, als wäre eine Granate neben ihm explodiert. Er ließ sich schwer auf den Schreibtischstuhl fallen und schaute seine Frau stumm an. Es war ein Blick des Einvernehmens. Sie verstanden beide, was es bedeutete, daß alte Gebeine buchstäblich wieder auf der Erdoberfläche erschienen waren.
Mit Eifer und Zuversicht nahm Martin sich der Aufgabe an, Tanja Schmidt, wie sie laut Paß hieß, näher kennenzulernen. Liese hatte auf Ansuchen der Polizei Tanjas gesamte Sachen abgegeben, und er war ihren Rucksack minutiös durchgegangen. Ganz unten hatte der Paß gelegen. Er sah neu aus und hatte nur wenige Stempel. Entweder war sie nie zuvor weiter weg gewesen, oder sie hatte aus irgendeinem Grund einen neuen Paß erhalten.
Das Paßfoto war erstaunlich gut, und er kam zu dem Schluß, daß sie nett ausgesehen, aber einen Zug ins Ordinäre hatte. Braune Augen und braunes Haar, etwas über Schulterlänge. Einen Meter fünfundsechzig groß, normal gebaut, was immer das auch heißen mochte.
Ansonsten hatte der Rucksack nichts Interessantes zu bieten.
Kleider zum Wechseln, ein paar abgegriffene Taschenbücher, Toilettenartikel und irgendwelches Bonbonpapier. Überhaupt nichts Persönliches, was er eigentlich merkwürdig fand. Hätte man nicht wenigstens ein Foto von der Familie oder dem Freund dabei haben müssen, vielleicht auch ein Adreßbuch? Allerdings hatten sie ja eine Handtasche bei der Leiche gefunden. Liese hatte bestätigt, daß Tanja eine rote Handtasche besessen hatte. Vermutlich hatte sie die persönlichen Dinge darin aufbewahrt. Jetzt waren sie jedenfalls verschwunden. Könnte es sich um Raub handeln? Oder hatte der Mörder ihre persönlichen Sachen als Souvenir behalten? Er hatte
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