Der Prediger von Fjällbacka
dann betrachten wir es als recht und billig, daß sie es auch bekommt. Ich meine, sie hat als Individuum schließlich das gleiche Recht, sich zu äußern, wie wir anderen. Und wie würdest du es finden, wenn dich jemand zu einem Essen zwingt, das du nicht magst? Ich glaube nicht, daß du das akzeptieren würdest.«
Britta dozierte mit Psychologinnenstimme, und Erica spürte plötzlich, daß das Maß voll war. Eiskalt nahm sie den Teller des Kindes, hob ihn Britta über den Kopf und kippte ihn aus. Vor lauter Verblüffung verstummte Britta mitten im Satz; die Makkaroni glitten über ihr Haar und rutschten in ihre Bluse.
Zehn Minuten später waren die Gäste verschwunden. Vermutlich, um nie wiederzukommen. Mit größter Wahrscheinlichkeit würde sie nun bei diesem Teil der Familie auf der schwarzen Liste stehen, aber selbst beim besten Willen konnte Erica nicht behaupten, daß sie darüber traurig war. Ebensowenig schämte sie sich, obwohl man ihr Benehmen bestenfalls als kindisch bezeichnen konnte. Es war ein wundervolles Gefühl gewesen, den Aggressionen, die sich während des zweitägigen Besuchs in ihr angestaut hatten, freien Lauf zu lassen, und sie hatte absolut nicht vor, dafür um Verzeihung zu bitten.
Den Rest des Tages plante sie auf dem Verandasofa zu verbringen, mit einem guten Buch und der ersten Tasse Tee des Sommers. Das Leben erschien ihr mit einemmal viel lichter zu sein.
Obwohl es nicht sehr umfangreich war, konnte sich das üppige Grün in seiner Glasveranda mit den besten Gärten messen. Jede Blume war liebevoll aus Samen oder aus einem Steckling gezogen, und dank der großen Sommerhitze war die Atmosphäre im Augenblick geradezu tropisch. In einer Ecke der Veranda züchtete er Gemüse, und nichts konnte sich mit dem Gefühl der Zufriedenheit messen, wenn man hierhergehen und eigenhändig gezogene Tomaten, Zucchini, Zwiebeln, ja sogar Melonen und Weintrauben ernten konnte.
Das kleine Reihenhaus lag am Dinglevägen, an der südlichen Einfahrt nach Fjällbacka, und war klein, aber zweckmäßig. Seine Veranda hob sich wie ein grünes Ausrufezeichen von den übrigen Reihenhäusern ab.
Nur wenn er draußen auf seiner Veranda saß, vermißte er das alte Haus nicht. Das Haus, in dem er selber aufgewachsen war und in dem er sich dann mit Frau und Tochter ein Zuhause geschaffen hatte. Sie waren jetzt beide nicht mehr da, und in der Einsamkeit hatte sich der Schmerz immer mehr verstärkt, so lange, bis er eines Tages eingesehen hatte, daß er sich auch von dem alten Haus und all den in den Wänden steckenden Erinnerungen verabschieden mußte.
Sicher fehlte diesem Reihenhaus der Charakter, den er an dem alten Haus so geliebt hatte, aber es war auch dieses Unpersönliche, was den Schmerz in der Brust lindern konnte. Inzwischen war die Trauer zu einem dumpfen Grummeln geworden, das ständig im Hintergrund zu hören war.
Als Mona verschwand, glaubte er, Linnea würde vor Kummer sterben. Sie war schon zuvor krank gewesen, aber hatte sich als zäher erwiesen, als er geglaubt hatte. Weitere zehn Jahre war sie am Leben geblieben. Seinetwegen, da war er sich ganz sicher. Sie wollte ihn mit seiner Trauer nicht allein lassen. Jeden Tag kämpfte sie sich durch ein Leben, das für sie beide nur noch ein Schattendasein war.
Mona war das Licht ihres Lebens gewesen. Sie kam, als sie beide schon die Hoffnung auf ein Kind aufgegeben hatten, und sie blieb ihr einziges Kind. All die Liebe, der sie fähig waren, war in diesem blonden fröhlichen Wesen verkörpert, dessen Lachen in seiner Brust kleine Feuer entfachte. Daß sie einfach verschwinden konnte, erschien ihm völlig unfaßbar. Damals war es gewesen, als müßte die Sonne aufhören zu scheinen. Als müßte der Himmel einstürzen. Aber nichts war geschehen. Vor ihrem Trauerhaus ging das Leben wie gewohnt weiter. Menschen lachten, lebten und arbeiteten. Doch Mona war nicht mehr da.
Lange lebten sie mit der Hoffnung. Vielleicht war sie ja irgendwo. Vielleicht führte sie ein Leben ohne sie und hatte es aus freien Stücken vorgezogen zu verschwinden. Zugleich kannten sie beide die Wahrheit. Das andere Mädchen war schließlich kurz zuvor verschwunden. Außerdem war Mona nicht der Typ Mädchen, der ihnen bewußt einen solchen Schmerz zufügen würde. Sie war eine gute Tochter, die sich liebevoll um ihre Eltern kümmerte.
Als Linnea starb, bekam er den endgültigen Beweis, daß Mona im Himmel war. Krankheit und Kummer hatten seine geliebte Frau dahinsiechen
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