Der Prediger von Fjällbacka
großen Bruder am Rockzipfel hing, aber an jenem Tag hatte sie einen Mann zu Gesicht bekommen. Das reizte sie. Das reizte sie ungeheuer. Sie hatte auch einen gefährlichen Zug wahrgenommen, und in ihren Augen erhöhte auch der seine Anziehungskraft. Johan war wirklich kurz davor gewesen, auf sie einzuschlagen, das hatte sie in seinem Blick gesehen, und als sie jetzt so dahockte, die Wange an seinem Rücken, ließ die Erinnerung sie innerlich vibrieren. Es war, wie dicht um eine Kerzenflamme zu fliegen, nahe genug, um die Hitze zu spüren, aber dennoch so kontrolliert, daß man sich nicht verbrannte. Wenn jemand diesen Balanceakt beherrschte, dann wohl sie.
Sie ließ die Hände weiter nach vorn wandern. Hungrig und fordernd. Noch immer konnte sie einen leichten Widerstand spüren, aber sie war sich sicher, daß noch immer sie die Macht in ihrer Beziehung hatte. Die erklärte sich ja trotz allem nur aus der körperlichen Perspektive, und was das anging, waren ihrer Meinung nach die Frauen im allgemeinen und sie persönlich im besonderen die Stärkeren. Und das nutzte sie jetzt aus. Mit Zufriedenheit bemerkte sie, daß seine Atemzüge tiefer wurden und sein Widerstand dahinschmolz.
Linda legte sich auf seinen Schoß, und als sich ihre Zungen begegneten, wußte sie, daß sie als Siegerin aus diesem Kampf hervorgegangen war. In dieser Illusion lebte sie, bis sie spürte, wie Johan ihre Haare packte und ihr den Kopf mit purer Kraft nach hinten bog, bis er ihr von oben in die Augen sehen konnte. Falls es seine Absicht war, daß sie sich klein und hilflos fühlen sollte, so hatte die Sache den gewünschten Effekt. Einen Moment lang sah sie dasselbe Blitzen in seinen Augen wie bei dem Streit auf Västergärden, und sie merkte, daß sie überlegte, ob ihre Stimme wohl für einen Hilferuf bis zum Hauptgebäude reichte. Vermutlich nicht.
»Du weißt, daß du nett zu mir sein mußt. Sonst singt vielleicht ein Vögelchen der Polizei ins Ohr, was ich hier auf dem Hof gesehen habe.«
Lindas Augen weiteten sich. Ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Das würdest du doch wohl nicht tun? Du hast es versprochen, Johan.«
»Nach dem, was die Leute sagen, bedeutet ein Versprechen von einem aus der Familie Hult nicht gerade viel. Das solltest du wissen.«
»Du darfst es nicht tun, Johan. Bitte, ich mache, was du willst.«
»Also jetzt zeigt sich doch, daß Blut dicker als Wasser ist.«
»Du sagst doch selber, daß du nicht verstehen kannst, was Gabriel Onkel Johannes angetan hat. Willst du jetzt dasselbe machen?« Ihre Stimme war flehend. Die Situation war ihr völlig aus den Händen geglitten, und verwirrt fragte sie sich, wie sie in eine solch unterlegene Position geraten konnte. Sie war es doch gewesen, die ihre Beziehung unter Kontrolle hatte.
»Warum sollte ich es denn nicht tun? Irgendwie könnte man sagen, es ist Karma. Der Kreis schließt sich ganz einfach.« Er lächelte böse. »Aber du hast da vielleicht einen Pluspunkt. Ich halte also wohl die Klappe. Aber vergiß nicht, das kann sich jederzeit ändern, also ist es wohl das beste, daß du nett zu mir bist - Liebling.«
Er streichelte ihr Gesicht, aber hielt ihre Haare mit der anderen Hand noch immer schmerzhaft gepackt. Dann führte er ihren Kopf weiter nach unten. Sie protestierte nicht. Das Gleichgewicht der Kräfte war endgültig verschoben.
7
Sommer 1979
Sie wachte von dem Geräusch auf, daß jemand in der Dunkelheit weinte. Es war schwer festzustellen, woher das Geräusch kam, aber sie rutschte langsam darauf zu, bis sie Stoff unter den Fingern und eine Bewegung spürte. Das Bündel auf dem Boden begann vor Entsetzen zu schreien, aber sie beruhigte das Mädchen, indem sie ihm übers Haar strich und beschwichtigend murmelte. Wenn jemand wußte, wie die Angst an einem zerrte und riß, bevor dumpfe Hoffnungslosigkeit an ihre Stelle trat, dann war das sie.
Ihr war bewußt, daß es egoistisch war, aber sie konnte nicht anders, als sich zu freuen, daß sie nicht mehr allein zu sein brauchte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, seit sie die Gesellschaft eines anderen Menschen gehabt hatte, aber sie glaubte dennoch nicht, daß es sich um mehr als ein paar Tage gehandelt hatte. Es war so schwer, hier unten in der Dunkelheit die Zeit im Blick zu behalten. Zeit war etwas, das nur dort oben existierte. Im Licht. Hier unten war die Zeit ein Feind, der dich festhielt in dem Bewußtsein, daß es ein Leben gab, das jetzt vielleicht schon vorüber war.
Als das Weinen
Weitere Kostenlose Bücher