Der Preis der Ewigkeit
meine Mutter mir mit dem Daumen über die Fingerknöchel. „Du kriegst das schon hin. Halt die Augen und Ohren offen, dann fällt dir mit Sicherheit etwas ein.“
So beruhigend ihre Worte auch hätten wirken sollen, eins ließ sie außer Acht: Kronos konnte mich sehen, und jetzt, da er mir nicht mehr traute, hatte ich nicht den Hauch einer Chance, noch einen einzigen Fetzen Information aus ihm herauszubekommen.
Für die verbleibenden drei Wochen im Oktober stürzte ich mich täglich ins Nichts – in der Hoffnung, irgendetwas mitzuhören oder auch nur den kleinsten Hinweis zu finden, um den Rat bei den Verteidigungsmaßnahmen zu unterstützen. Doch größtenteils waren meine Mühen vergebens. Calliope verbrachte die meiste Zeit damit, allein auf ein Hologramm der Insel zu starren. Welche Strategie Kronos und sie auch immer verfolgten, es blieb mir ein Rätsel. Sie befanden sich kaum je auch nur im selben Raum, und wann immer Kronos irgendwo in Calliopes Nähe auftauchte, fand sie schnell eine Ausrede, um zu verschwinden.
Zuerst dachte ich, sie wäre wütend, so kurz angebunden, wie sie mit ihm sprach. Doch je öfter ich sie zusammen sah, desto mehr fielen mir andere Dinge auf. Die Art, wie sie in sich zusammensank, wenn er in der Nähe war. Wie ihre Stimme und ihre Konzentration ins Wanken gerieten. Sie war nicht wütend. Sie fürchtete sich zu Tode vor ihm.
Daraus konnte ich ihr keinen Vorwurf machen. Jetzt, da niemand mehr seine Ambitionen und Entschlossenheit bremste, wurde Kronos Tag für Tag stärker, bis seine menschliche Gestalt irgendwann nicht mehr in der Lage schien, all diese Macht zusammenzuhalten. An seinen Umrissen knisterte es, und wo er hintrat, hinterließ er schwarze Fußspuren. Obwohl er mich sah, gab er nie zu erkennen, dass er mich bemerkte. Aber das war mir auch lieber.
Jeden Abend erstattete ich dem Rat Bericht, bis Dylan schließlich genau das sagte, wovor ich mich gefürchtet hatte. „Er wird stärker, als wir erwartet haben, und das wesentlich schneller. Unsere Barrieren werden nicht bis zur Wintersonnenwende halten.“
Niemand im Rat widersprach ihm. Alle wussten, dass uns die Zeit davonlief, und ohne weitere Informationen stocherten sie im Dunkeln herum. Sie hatten überlegt, welche Routen nach New York er nehmen könnte. Auf welche Weise er die totale Zerstörung über die Stadt bringen könnte, in der ich aufgewachsen war und die so gut wie jede glückliche, normale Erinnerung an mein Leben mit meiner Mutter beherbergte. Für jede Möglichkeit gab es einen Plan.
Doch kräftemäßig waren sie hoffnungslos unterlegen. Nichts, was Theo und Ella zu den niederen Gottheiten sagten, die sie kreuz und quer über den Globus verfolgten, brachte einen entscheidenden Vorteil. Oft begleitete James sie, um diejenigen aufzuspüren, die sich vor Walters Zorn versteckten, sodass ich mit meiner Mutter und einer Handvoll Götter zurückblieb, die bis an ihre Grenzen ausgelastet waren. Ich zog mich zurück – nicht nur, um zu spionieren, sondern vor allem, um dem Rat aus dem Weg zu gehen.
Sooft ich Henry auch in Calliopes Palast begegnete, er gab kein weiteres Mal zu erkennen, dass er mich bemerkte. Wenn Milo die Hände nach mir ausstreckte, kuschelte Henry mit ihm, ohne auch nur einen Blick in meine Richtung zu werfen. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr zweifelte ich auch an jenem besonderen Moment im Kinderzimmer; und je mehr Zeit Henry mit Calliope verbrachte, desto mehr schien er ihrem Zauber zu verfallen. Jede Andeutung von Widerstand war verschwunden. Er tat, was immer sie ihm befahl, doch immer war Milo bei ihm, und daran klammerte ich mich mit aller Macht. Irgendwo da drin war er noch er selbst, und auch wenn es ein harter Kampf für ihn sein würde, sich zu befreien, wenn es so weit war, hatte er immer noch eine Chance.
Anfang November, als Henry gerade dabei war, Milo in sein Nachmittagsschläfchen zu wiegen, kam Calliope ins Kinderzimmer geeilt, das Gesicht geisterhaft blass. „Irgendetwas stimmt nicht mit Kronos.“
Statt Milo in die Wiege zu legen, wie er es sonst immer tat, wenn das Baby kurz vorm Einschlafen war, schmiegte Henry ihn an seine Brust und folgte Calliope. Ich lief ihnen hinterher und sah durch die Fenster, wie sich ein Sturm über der Insel zusammenbraute. Schwarze Wolken streckten gierige Finger durch die warme Meeresluft, und Donner rollte über die See, eine düstere Warnung vor dem, was da kommen mochte.
Calliope hastete eine Treppe hinauf und trat durch eine
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