Der Preis der Ewigkeit
verwitterte Tür aufs Dach. Eng drückte Henry unseren Sohn an sich, um ihn vor dem starken Wind zu schützen, der an seinen Laken zerrte. Doch trotz Milos dünner Protestschreie, die sich über das Brüllen des Meeres erhoben, ging er nicht wieder hinein.
Als ich Kronos auf dem Dach entdeckte, wusste ich augenblicklich Bescheid. Dieser Sturm hatte nichts Natürliches an sich. Kronos’ menschliche Gestalt war ihm nicht länger gewachsen, und statt des Mannes, der Henry so ähnlich sah, dass niemand sie für etwas anderes als Vater und Sohn gehalten hätte, war er nur noch eine glühende Kugel geballter Macht.
Kronos’ dichter Nebel wirbelte im Auge des Sturms, von mehr Blitzen durchzuckt, als die Natur je an einem Ort produzieren könnte, und darüber erhob sich eine schwarze Windhose in den Himmel. Eine Warnung. Eine Botschaft. Ein Befehl.
Kommt und kämpft.
Ich schluckte schwer und streckte instinktiv die Hand nach Henry aus. Statt dieselbe Furcht zu zeigen wie Calliope, hatte er grimmig die Lippen aufeinandergepresst. Zwischen seinen Augenbrauen stand eine steile Falte der Entschlossenheit. Was auch immer kommen mochte, er war bereit.
„Geh“, befahl er, und als Calliope nicht reagierte, runzelte ich die Stirn. Was meinte er damit – gehen? Doch dann wandte er sich um, sah mir direkt in die Augen und ich verstand. Er meinte mich. Ich liebe dich. Sag den anderen Bescheid .
Zweimal öffnete ich den Mund und schloss ihn wieder. Was ist mit dir und Milo?
Ich sorge für seine Sicherheit. Jetzt geh .
Unberührt durch den tosenden Sturm, streckte ich die Hand nach ihm aus, bis meine Fingerspitzen nur noch ein paar Millimeter vor seiner Wange schwebten. Ich liebe dich auch. Vergiss nicht, wer du bist .
Trotz der tödlichen, wirbelnden schwarzen Masse keine sechs Meter hinter mir brachte Henry ein Lächeln zustande. Dasselbe sollte ich dir sagen. Sei tapfer und tu, was du tun musst .
Mir brannten die Augen, doch ich konnte den Blick nicht von ihm losreißen, als ich mich vom Palastdach fortgleiten ließ. Bitte stell nichts Dummes an und lass mich allein .
Bevor er etwas erwidern konnte, verblasste der peitschende Sturm um uns herum. An seine Stelle trat der ewig perfekte Sommerhimmel in meinem Zimmer auf dem Olymp.
Augenblicklich rannte ich los, so erschüttert, dass ich meine Teleportationskräfte für den Moment vergessen hatte. Ich musste rennen. Ich wollte schreien, aber mir versagte die Stimme angesichts der Worte, vor denen ich mich so lange gefürchtet hatte.
Wie von Sinnen rannte ich in den Thronsaal und erreichte die Mitte des Kreises. Ich ignorierte das typische Schweigen einer unterbrochenen Unterhaltung. Was auch immer der Rat gerade besprochen hatte, jetzt spielte es keine Rolle mehr.
„Kronos“, brachte ich atemlos hervor. „Über der Insel braut sich ein Sturm zusammen und …“
„Das wissen wir“, unterbrach mich Dylan, doch ich schüttelte den Kopf. Er verstand es nicht.
„Die letzte Schlacht – sie hat begonnen.“
16. KAPITEL
DIE DUNKELSTE STUNDE
Walter musste viermal schreien und einen Blitz einschlagen lassen, bevor der Rat sich wieder beruhigte. Alle waren aufgesprungen, einschließlich meiner Mutter, und der Raum war aufgeladen mit Nervosität und Aggression.
„Auf diesen Moment haben wir uns ein Jahr lang vorbereitet“, erinnerte Walter die anderen, als das Stimmengewirr sich legte. „Und wir leben seit Äonen mit dem Wissen, dass die Titanen sich erheben könnten. Die Verbündeten, auf die wir uns verlassen haben, mögen nicht länger zu uns stehen, aber wir haben einander und gemeinsam sind wir stark .“
Niemand sagte etwas. Nicht einmal Dylan brachte einen Schlachtruf zustande. Dies war entweder der Tag, an dem sie Kronos endlich zurück in den Tartaros schicken würden, oder jener, an dem der Rat fallen würde. Wenn das nächste Mal die Sonne über Griechenland aufging, würde ich entweder eine Familie haben oder ich wäre vollkommen allein – ein Spielball von Kronos’ Launen und düstersten Begierden.
Lieber hätte ich mir mit diesem verfluchten Dolch die Kehle durchgeschnitten.
„Wir sind bereit. Wir sind zusammen. Und wir werden kämpfen, bis wir siegen oder nicht mehr existieren“, fuhr Walter fort. „Ihr habt eine Stunde, um zu tun, was immer ihr noch erledigen müsst. Danach treffen wir uns hier wieder.“
Einer nach dem anderen verließen die Ratsmitglieder den Saal, manche paarweise, andere allein. Ratlos blieb ich, wo ich war. Was sollte
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