Der Preis der Ewigkeit
hatte ich in der Angst gelebt, aufzuwachen und zu entdecken, dass sie fort war, nur noch eine leere Hülle anstelle meiner Mutter. Hatte zugesehen, wie die Zeiger der Uhr auf Mitternacht sprangen, und mich gefragt, ob dies das Datum war, das ich für den Rest meines Lebens Jahr um Jahr betrauern würde.
Ich wusste, was es bedeutete, jemanden zu verlieren. Ich wusste, was es hieß, das Unausweichliche zu bekämpfen.
Doch nichts davon hatte mich darauf vorbereitet, Henry sterben zu sehen.
Ein Schwall von Blut quoll aus der Wunde in seiner Brust. Haltlos fiel er auf die Knie, eine Hand an die Rippen gepresst, die andere nach mir ausgestreckt. Nie zuvor hatte ich derart pures Entsetzen in seinen Augen gesehen. Götter starben nicht. Außer sie wollten es.
Ich streckte den unverletzten Arm nach ihm aus, während das Leben aus ihm herausströmte. War die Waffe stark genug, um auch mich zu töten? Wenn es vorbei war, würden wir auf der anderen Seite wieder vereint, wo auch immer das sein mochte?
Gab es für den Herrscher über die Toten überhaupt eine andere Seite?
Als unsere Finger sich trafen, ging ein Ruck durch mich hindurch, doch es war nicht die Berührung eines Titanen, die sich durch meinen Leib fraß. Nein, es war eine viel vertrautere Empfindung – aufrüttelnder, als ich sie je gespürt hatte, aber trotzdem wusste ich augenblicklich, was geschah. Wir gingen heim.
In der einen Sekunde war ich keine zwei Meter vom weinenden Milo entfernt. In der nächsten lag ich mit Henry am Boden, umgeben von Stille. Wir waren nicht mehr in Calliopes Palast. Nicht einmal mehr auf der Insel. Doch in der Unterwelt befanden wir uns auch nicht, jedenfalls in keinem Teil davon, den ich je gesehen hatte.
Stattdessen lagen wir mitten in einem riesigen Saal, der aus nichts als einer himmelblauen Decke und einem Fußboden in der Farbe des Sonnenuntergangs bestand. Die goldenen Wände schienen sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken, und die Sonne, die mitten an der Decke hing, als wäre es tatsächlich der Himmel, tauchte alles in glitzerndes Licht. Es hätte mir den Atem rauben sollen.
Aber Milo war fort. Wo auch immer wir waren, ich wusste instinktiv, dass er nicht dazukommen würde, und in mir explodierte eine unaussprechliche Qual. Lieber hätte ich bereitwillig noch tausendmal mit diesem Dolch auf mich einstechen lassen, als dieses Gefühl auch nur für einen kurzen Augenblick zu erleben.
Doch es gab nichts, was ich tun konnte. Meine Mutter war bei ihm auf der Insel, zusammen mit James und dem Rest des Rats, und das würde reichen müssen. Die einzige Person, der ich jetzt auch nur ansatzweise helfen konnte, drückte mich schwer auf den rotgoldenen Fußboden.
„Henry.“ Auch wenn ich ihm auf keinen Fall noch mehr wehtun wollte, hatte ich keine andere Wahl, als ihn sachte von mir herunterzurollen. Sein Oberkörper war blutüberströmt, und verzweifelt presste ich ihm die Hände auf die Brust, um die Blutung zu stillen, doch es war aussichtslos. Nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, konnte ich rein gar nichts tun, um ihn zu retten. Es war nicht fair. Es war einfach nicht fair .
„Kate?“ Seine Stimme klang belegt und heiser, als wäre er krank, doch das war er nicht. Er lag im Sterben. „Bist du … Geht’s dir gut?“
„Mir geht’s super“, log ich und meine Stimme brach. „Bleib liegen. Du verlierst zu viel Blut.“ Wie viel Blut hatten Götter eigentlich? Genauso viel wie Sterbliche? Und wie viel konnten sie entbehren?
„Ich hab’s nicht gewusst“, wisperte er. „Ich dachte … Ava hat berichtet … sie hat gesagt …“
„Es ist nicht deine Schuld.“ Zitternd hauchte ich einen Kuss auf seine Lippen. Er schmeckte nach Regen. „Nichts von alledem ist deine Schuld. Ich hätte ihr niemals trauen dürfen – ich hätte niemals von deiner Seite weichen dürfen. Es tut mir so leid.“
Schwach erwiderte er meinen Kuss. „War das … war dieses Baby …“
Ich verspürte einen Kloß in der Kehle. „Ja. Das ist dein Sohn.“ Ich brachte ein schwaches Lächeln zustande. Wenigstens wusste Henry es jetzt. „Ich hab ihn Milo getauft. Aber wir können ihn auch anders nennen, wenn du willst.“
„Nein.“ Er hustete und Blutstropfen erschienen auf seinen Lippen. „So ist es perfekt. Genau wie du.“
Ich legte mich auf seine Brust, drückte mit so viel Gewicht auf die Wunde, wie ich konnte. Auf keinen Fall würde ich mich so von ihm verabschieden. Nicht von Henry, nicht von unserem
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