Der Preis des Schweigens
mir, so gut es ging, die Wange. Der Kratzer war nicht tief und würde in ein oder zwei Tagen verheilt sein, redete ich mir ein. Es hätte schlimmer kommen können.
Ich fuhr mechanisch und langsam dahin. Die Versuchung war groß, das Gaspedal voll durchzudrücken, um möglichst schnell ins Bett zu kommen, aber ich wollte auf keinen Fall so weit von zu Hause entfernt geblitzt werden oder in eine Polizeikontrolle geraten, schon gar nicht mit zerkratztem Gesicht und schlammbespritzter Kleidung. Alles in bester Ordnung, Officer!
Als ich endlich die Haustür hinter mir zumachte und mich im Flur auf den Boden sinken ließ, sah ich den blinkenden Anrufbeantworter.
Dan hatte zwei Nachrichten hinterlassen. In der ersten sagte er, er rufe nur an, um zu hören, ob ich einen schönen Tag gehabt habe, und um mir zu sagen, dass er mich liebe. In der zweiten Nachricht bat er mich, ihn vor dem Schlafengehen anzurufen, es sei eine ruhige Schicht und ihm sei langweilig. Die letzte Nachricht war schon zwei Stunden her.
Ich rief ihn nicht zurück, weil ich wusste, dass es mir unmöglich gewesen wäre, auch nur einen zusammenhängenden Satz herauszubringen.
Erst als ich mir die schlammige Jeans auszog, um sie in die Wäsche zu werfen, stellte ich fest, dass ich noch das Heftchen mit den roten Pillen und das Foto von Justin und Suzy in der Tasche hatte. Aber Dans Taschenlampe war nirgendwo zu finden.
15.
I ch rannte. Ich rannte, so schnell mich meine Füße trugen. Mein Atem raste. Zuerst achtete ich nicht auf den Mann, der in der Ferne auftauchte und von den Sportplätzen her auf mich zulief, er war nur ein verschwommener Fleck, der sich bewegte. Ich hetzte unbeirrt weiter, aber je näher der Mann kam, desto schneller schien er zu werden. Ich spannte die Muskeln an und änderte leicht meinen Kurs, um ihn – wie es unter Joggern üblich ist – höflich vorbeizulassen, aber er scherte in letzter Sekunde in dieselbe Richtung aus und versperrte mir den Weg. Ich wich taumelnd zur Seite aus, um nicht gegen ihn zu prallen, und meine Schuhe rutschten auf dem nassen Laub, das den Pfad bedeckte.
Der Mann schob seine Kapuze zurück, und ich sah, dass es Justin war. Sein Gesicht verzog sich zu einem triumphierenden Grinsen, aber seine Augen blieben völlig ausdruckslos. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da hatte er mich schon mit einem einzigen Hieb zu Boden gestreckt. Die Wucht seines Schlags raubte mir die Luft. Ehe ich mich dessen versah, saß er auf mir und hielt mich fest. Ich schlug um mich und wand mich, aber ich hatte keine Chance, er war zu stark.
»Wenn du mir mein Geld nicht geben willst, musst du eben auf andere Weise bezahlen«, knurrte er wütend. Mein Versuch zu schreien, scheiterte kläglich, ich brachte keinen Ton heraus. Ich wollte kämpfen, aber es ging einfach nicht.
Dan! Dan, bitte hilf mir!, rief ich stumm. Dann wachte ich auf und stellte fest, dass die Hand, die auf meinem Arm lag, Dan gehörte und dass ich gegen unsere Daunendecke und die wollene Überdecke ankämpfte, die sich um mich gewickelt hatten und mich unerbittlich einzwängten.
Kalter Schweiß bedeckte meinen ganzen Körper, und meine Augen schossen ziellos durch die bedrohliche Dunkelheit, bis ich endlich die vertrauten Umrisse unseres Schlafzimmers erkannte. Durch die Vorhänge drang bereits das erste Dämmerlicht.
»Schon gut, Jen, ich bin ja da«, murmelte Dan schläfrig. »Du bist in Sicherheit. Alles ist gut. Du hast nur geträumt.« Er streichelte sanft und gleichmäßig meine Haare, wie er es oft tat, wenn ich Trost brauchte oder er mir zeigen wollte, dass er mich liebte.
Stoßweise atmend lag ich da und schüttelte langsam den Traum und die Erinnerungen an Justins festen Griff um meinen Arm und an meine Flucht vom Wohnwagenpark am Vorabend ab. Mein Alptraum kam mir genauso real vor wie die beiden echten Erlebnisse. An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Mit schwerem Kopf und Bauchschmerzen dämmerte ich weiter vor mich hin, bis gegen sieben Uhr mein Handy auf dem Nachttisch piepste. Ich streckte die Hand aus und sah nach. Es war wieder eine Nachricht von Justin eingetroffen.
»Ich hab gestern Abend angerufen«, murmelte Dan im Halbschlaf und legte mir die Hand auf die Taille.
»Ich habe eine längere Joggingrunde gemacht«, flüsterte ich und drehte mich von ihm weg, um das Display meines Handys und meine zerschrammte Wange vor ihm zu verbergen. Ich würde mir später eine gute Erklärung dafür ausdenken. »Schlaf
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