Der Preis des Schweigens
zusammengenommen, aber aus irgendeinem Grund hatte er nie eine Beförderung angestrebt. Jedes Revier und jeder Bezirk hat seinen eigenen Dick Thomas (bei uns auf der Wache war es Sergeant Stan im Untergeschoss). Das Tolle an diesen Männern ist, dass man sie nur freundlich behandeln, aufmerksam ihren Geschichten lauschen und ihnen ab und zu eine Schachtel Kekse mitbringen muss, und schon hat man die besten Ansprechpartner der ganzen Polizei zur Verfügung, eine endlos sprudelnde Quelle von Informationen, die es nie in die offiziellen Akten geschafft haben. Sie kennen sämtlichen Klatsch und Tratsch, sämtliche unbestätigten Gerüchte und manchmal auch die Wahrheit, die nie bewiesen werden konnte.
Als ich Dick und seine neue Kollegin Rhian besucht hatte, um ein Alibi für meinen ersten Besuch im Wohnwagenpark von Aberthin zu haben, hatte ich Dick eine Packung Bakewell-Törtchen mitgebracht. Ich hatte also bereits einen Stein bei ihm im Brett. Er wirkte ein bisschen überrascht, mich schon so bald wiederzusehen, aber ich hatte einen guten Vorwand: einen großen Karton mit frisch gedruckten Einladungen zur nächsten Gemeindeversammlung, die wir an alle Polizeireviere unseres Verwaltungsbezirks verteilten. Am frühen Nachmittag stieg ich mit diesem Karton aus dem Auto und betrat Dicks Wache.
Eigentlich handelte es sich dabei um ein aus drei Räumen bestehendes Gemeindebüro in einem umgebauten Bungalow, das erst vor sechs Monaten eröffnet hatte. Es war Teil einer vom Innenministerium angeordneten Strategie, die die Polizei in die Wohnviertel bringen und sie für die Einwohner »zugänglicher« machen sollte. Auch in einigen Gesamtschulen und größeren Supermärkten waren seither kleine Polizeiposten eingerichtet worden. In regelmäßig stattfindenden Gemeindeversammlungen sollte die Bevölkerung Gelegenheit erhalten, mit der Polizei »in einen Dialog zu treten«. Mein Verdacht war jedoch, dass das Innenministerium mit dieser Aktion ebenjene Bevölkerung und auch die Medien darüber hinwegtäuschen wollte, dass durch die erheblichen Etatkürzungen überall Polizeiwachen geschlossen wurden.
Dicks Wache, beziehungsweise sein Gemeindebüro, war stets blitzsauber und aufgeräumt, genau wie er selbst. Ich hatte ihn noch nie ohne sorgfältig gebügeltes Hemd und akkurat geschnittene Haare gesehen.
»Meine Güte, sind Sie gegen eine Tür gerannt, oder was?«, fragte er mit einem verschmitzten Lächeln, als ich zur Tür hereinkam.
»Hingefallen. Beim Joggen.«
»Und da heißt es immer, Bewegung sei gesund. Solltest du übrigens auch mal probieren, Rhian. Wär mal ganz was Neues für dich.«
Rhian, die neue Polizeirekrutin, lümmelte mit offener Uniform-Krawatte und unordentlichem Pferdeschwanz auf einem Stuhl und blätterte in einer Boulevardzeitschrift. Sie war einundzwanzig, sah aber sogar noch jünger aus.
»Ach Dick, was wissen Sie schon?«, entgegnete sie freundlich, bevor sie mich begrüßte: »Hi, Jen, schon wieder da?«
»Tu mir den Gefallen und leg die Zeitschrift weg, ja?«, bat Dick. »Mach dich lieber nützlich und setz Teewasser für die Pressereferentin auf. Und dann fängst du an, das Datum und den Veranstaltungsort für die nächste Gemeindeversammlung auf die Plakate zu schreiben, die Jen mitgebracht hat. Dann können wir gleich nachher anfangen, sie aufzuhängen.«
Rhian gehorchte langsam, aber gutmütig.
»Diese jungen Leute sind dermaßen unmotiviert«, flüsterte Dick, während er mir einen Stuhl anbot. »Sie gibt sich ja Mühe, aber die Hellste ist sie wirklich nicht.«
Nachdem ich es mir mit einer dampfenden Tasse Tee auf dem Stuhl gemütlich gemacht hatte, öffnete ich die Schachtel Schokoladenkekse, die ich mitgebracht hatte, und schob sie zu Dick hinüber. Sobald er begonnen hatte, genüsslich an einem Keks zu knabbern, sagte ich gedankenverloren, als würde es mich gar nicht besonders interessieren: »Wenn ich schon mal hier bin, kann ich auch gleich Ihr unerschöpfliches Wissen ein wenig anzapfen. Erinnern Sie sich noch an einen Skandal hier in der Gegend, der jetzt schon ein paar Jahre her sein müsste? Es ging um einen gewissen Pfarrer Miller und seine Tochter. Als ich letztes Jahr wegen des Benefizlaufs hier war, hat mir eine Teilnehmerin davon erzählt. Ich frage nur, weil wir, beziehungsweise die Führungsriege, darüber nachdenken, eine Kampagne gegen Kindesmissbrauch in der Kirche zu starten.« (Das war beinahe die Wahrheit, denn vor ein paar Wochen war in Swansea ein Pfarrer
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