Der Preis des Schweigens
mal eine oberflächliche Routineuntersuchung?«
»Nein. Es gab ja, wie gesagt, keine Beweise, und sie hat die Anzeige selbst zurückgezogen. Heutzutage hätte man wahrscheinlich ein bisschen genauer hingeschaut, um sicherzugehen, dass die Rücknahme der Anzeige freiwillig war. Aber damals galt: keine Anschuldigung, keine Ermittlung. Hat ein tragisches Ende genommen, das Ganze.«
»Wieso tragisch?«
»Weil sie sich umgebracht hat.«
»Was?«
»Ja, sie hat ihrem Leben ungefähr achtzehn Monate später ein Ende gesetzt, unten in Carmarthen, wo die Familie hingezogen war. Mein Cousin Alun, der damals dort in der Gegend gearbeitet hat – jetzt ist er im Ruhestand und führt nebenher eine Frühstückspension –, hat mir davon erzählt, weil er wusste, dass die Familie ursprünglich aus meinem Bezirk stammt. Offenbar ist sie eines Tages auf die Eisenbahnbrücke geklettert und gesprungen. War erst einundzwanzig. Eine echte Tragödie.«
»Und es gab keine verdächtigen Umstände?«, fragte ich und versuchte zu verarbeiten, was Dick mir gerade erzählt hatte.
»Nein, überhaupt keine. Laut meinem Cousin war es eindeutig Selbstmord. Angeblich hat sie es getan, weil sie es sich nicht verzeihen konnte, das Baby abgetrieben zu haben. Oder weggegeben, das weiß ich nicht mehr genau. Vor dem Selbstmord hat sie offenbar schon eine ganze Weile getrunken und unter Depressionen gelitten. Wenn mich meine Erinnerung nicht im Stich lässt, sind irgendwo Oben-ohne-Fotos von ihr aufgetaucht. Das war damals noch eine größere Sache als heute, wo kein Hahn mehr danach kräht, weil die jungen Frauen sowieso ständig ihre Titten auspacken. Entschuldigen Sie meine ungehobelte Sprache.«
Er verstummte, und ich schwieg ebenfalls.
»Lag wahrscheinlich an der übertrieben strengen Erziehung«, mutmaßte er, nachdem er eine Weile nachgedacht und noch einen Keks gegessen hatte. » Wenn diese strenggläubigen Leute ausflippen, dann so richtig. Stille Wasser sind tief, sage ich immer. Der Vater des Mädchens hatte nach ihrem Tod einen Herzinfarkt, wie mir Alun erzählt hat. Wirklich traurig, so was. Wenn die eigenen Kinder einen ins Grab bringen.
Hab ich Ihnen übrigens schon erzählt, dass Sally, meine Älteste, ihr erstes Kind erwartet? Ich werde Großvater und kann es gar nicht erwarten! Wenn sie klein sind, sind sie am niedlichsten. In sechs Monaten bin ich hier weg, gehe offiziell in Ruhestand. Dann schaukele ich nur noch meine Enkel auf den Knien und gehe im Park spazieren. Nie wieder Taschendiebe, Sozialhilfebetrüger und Familiendramen. Sally will nach der Geburt so schnell wie möglich wieder arbeiten, weil sie in ihrem Anwaltsbüro ziemlich gut verdient. Umweltrecht, das ist heutzutage eine sichere Bank. Ich habe schon zu ihr und Bob gesagt, dass ich mich liebend gerne um den kleinen Wurm kümmere. Bin sowieso froh, diesen Beruf hinter mir zu lassen. Ist nicht mehr das, was er mal war.«
Er warf Rhian einen schwermütigen Blick zu, die mit einem Filzstift langsam und konzentriert Ort und Zeit der Gemeindeversammlung in das freie Feld des ersten Plakats eintrug.
Dick und ich plauderten noch ein wenig über das Wetter und die bevorstehende Autowasch-Aktion, mit der die örtliche Schule und die Feuerwehr Geld für gute Zwecke sammeln wollten. Wie üblich bat ich Dick, mir die Eckdaten zukommen zu lassen, damit ich einen kleinen Artikel darüber in die Zeitung setzen konnte.
Als ich eine Stunde später wieder zurück nach Hause fuhr, ging mir das Foto von Suzy Milland und Justin nicht mehr aus dem Kopf. Auch die anderen Fotos, die ich im Wohnwagen gesehen hatte, ließen mir keine Ruhe, vor allem eines, auf dem sie unbekümmert und mit wehenden Haaren im Meer gestanden und ihr Kleid angehoben hatte, damit es nicht nass wurde. War Justin (oder vielmehr Paul) der Vater ihres Babys gewesen? Hatte tatsächlich eine Vergewaltigung stattgefunden, die alle Beteiligten hinterher vertuscht hatten? Oder war etwas ganz anderes passiert? War Justin damals schon auf den Geschmack gekommen, weil er gemerkt hatte, was man mit Erpressung alles erreichen konnte? Waren die Oben-ohne-Fotos mit oder ohne Suzys Einwilligung entstanden? Das Ganze konnte jedenfalls kein Zufall sein. War Suzy sein erstes Opfer gewesen, auf welche Art auch immer? Falls ja, hatte Justin schon als junger Mann mit seinen Spielchen begonnen und brachte es inzwischen auf zehn Jahre Erfahrung – zehn Jahre mehr als ich.
Fest stand, dass ich Suzy nicht mehr ausfindig machen
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