Der Preis des Schweigens
den beliebtesten Pub der Gegend aufgesucht, dort auf mich gewartet und mich nach meinem Eintreffen geschickt in ein Gespräch verwickelt, bei dem wir – welch Zufall – immer neue Gemeinsamkeiten festgestellt hatten. Die meisten unserer vermeintlich gemeinsamen Vorlieben hatte ich vermutlich zuerst erwähnt, woraufhin er nur noch zustimmen musste. Dass ich auf die Band Elbow stand, konnte ihm ein flüchtiger Blick auf den Beifahrersitz meines Autos auf dem Hotelparkplatz verraten haben, wo mehrere ältere CDs dieser Band herumlagen. Auf den Rücksitz hatte ich außerdem diverse Taschenbücher und die Reisebeilage der Times geworfen. Justin hatte nicht einmal besonders ausgeprägte detektivische Fähigkeiten mitbringen müssen. Ich hatte so vieles von selbst preisgegeben.
Er hatte niemanden im Mochyn-Ddu-Pub gekannt, aber dennoch den Eindruck erweckt, regelmäßig dort zu verkehren, vermutlich, indem er mittags ein Sandwich im Pub gegessen hatte. Das reicht meist schon, damit einen beim nächsten Besuch der Barkeeper grüßt. Und wenn man einen beliebigen einheimischen Surfer fragt, wo an diesem Tag wohl die saubersten Sets reinkommen, und mit ihm ein bisschen über Tubes und Boards plaudert, wird man bei der nächsten Begegnung wie ein alter Freund begrüßt. Und schon sieht es so aus, als wäre man ebenfalls ein Einheimischer – einfacher geht es nicht.
Ich hatte meine Handtasche im Pub und später im Ferienhaus dabeigehabt, ein Geschenk für jeden Hochstapler. Darin waren mein Führerschein gewesen, ein Briefumschlag, auf dem meine Privatadresse stand, mein Dienstausweis von der Polizei, meine Visitenkarten, mein Handy – alles, was er wissen musste. Den Rest hatte ich ihm selbst verraten. Und schon hatte die Jagd begonnen.
Wie hoch wohl die Erfolgsquote bei dieser Methode war? Fiel jede dritte Frau darauf herein, oder vielleicht sogar jede zweite? Das Geschäftsmodell, das Justin zusammen mit Pootle entwickelt hatte, war nicht schwer zu durchschauen: Sie blätterten Reiseführer durch, suchten sich ein geeignetes Hotel aus, legten sich dort auf die Lauer und nahmen ein Opfer ins Visier. Dann stellten sie sich unter falschem Namen vor und betrieben den Prozess der Verführung wie ein Rollenspiel. Am Ende mussten sie nur noch dafür sorgen – ob mit Rohypnol oder ohne –, dass es zum Geschlechtsverkehr kam, und schon hatten sie ihr Video, mit dem sie Geld erpressen konnten. Biss eine Frau nicht an, versuchten sie es eben bei der nächsten. Schluckte sie den Köder, steckten sie die Kohle ein. Eine schnelle, einfache Sache. Man musste nur darauf achten, dass man nicht im eigenen Revier wilderte. Wie hatte Justin so schön gesagt: Man scheißt nicht, wo man isst.
Er hatte angedeutet, dass er sein perverses Spielchen als reines Geschäft betrachtete. Offenbar ein profitables Geschäft.
Und ich war in jeder Hinsicht ein leichtes Opfer gewesen, hatte mich diesem Mann voll hingegeben, der alles zu sein schien, was ich mir von meinem Verlobten vergeblich wünschte, und in Wirklichkeit nichts davon war.
Zu keinem Zeitpunkt hatte er mich zu irgendetwas gezwungen, zu keinem Zeitpunkt hatte ich etwas getan, von dem ich im Nachhinein behaupten könnte, es nicht gewollt zu haben, zumindest bis mich irgendwann die Nacht und der Alkohol und der Verführer, den Justin so perfekt gespielt hatte, verschlungen hatten. Ich würde wohl nie erfahren, ob es tatsächlich nur der Wein gewesen war, der mir mein Erinnerungs- und Urteilsvermögen geraubt hatte, oder ob Justin mich doch unter Drogen gesetzt hatte.
Am schlimmsten war der Gedanke, dass er mich vielleicht mit Pootle geteilt hatte. Zwei Kondome, zwei Männer? Gut möglich, dass mir Justin irgendwann verraten würde, ob Pootle anwesend gewesen war oder nicht. Ich wollte es gar nicht wissen, wollte die Augen davor verschließen, aber ich traute es Justin zu, dass er sich diese kleine Zusatzinformation aufsparte, um die Daumenschrauben anzuziehen, weil ich ihn verärgert hatte – weil ich ihm seinen sauberen Abgang versaut hatte.
Und das alles nur, weil ich den fatalen Fehler begangen hatte, zu glauben, dass mich ein Mann vor mir selbst retten könnte, dass er mich entführen würde – nicht in ein »Happy End« mit Hochzeit, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Ich sehnte mich nach einem alternativen Ende, träumte von einer Romanze, die mein Leben für immer verändern würde.
Aber eine Romanze ist nicht dasselbe wie Liebe, das war mir inzwischen bewusst. Eine
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