Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Preis des Schweigens

Der Preis des Schweigens

Titel: Der Preis des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beverley Jones
Vom Netzwerk:
ersten Sonnenstrahlen kletterten über die Baumwipfel. Es roch nach kalter Erde und nassem Fluss. Mein Puls und mein Atem passten sich einander an, ein synchroner, gleichmäßiger Rhythmus.
    Ich passierte die Spielfelder und lief hinter der Musikschule und den Sandstein-Reihenhäusern am Stadtrand entlang. Eine Gruppe zwölf- oder dreizehnjähriger Jungen, die ihre Wollmützen tief ins Gesicht gezogen hatten und deren schwarze Schuluniformen unter ihren Winterjacken hervorlugten, kicherte anzüglich, als ich vorbeijoggte. Einer rief: »Zeig uns deine Titten, Baby!« Aber ich nahm die Jungen nur am Rande wahr, als wären sie ein Hintergrundbild, zweidimensionale Gestalten auf einer Leinwand, die flackernd im Nichts verschwanden, sobald ich an ihnen vorbei war.
    Während ich durch die unwirkliche weiße Winterlandschaft rannte, eine größere Runde als je zuvor, reduzierten sich meine Gedanken auf einen Instinkt, eine intuitive Lösung für alle meine Probleme. Ich war über jede Rechtfertigung und jede Einteilung in richtig oder falsch längst hinaus und hatte einen Punkt erreicht, an dem anstelle meiner Vernunft ein großes Loch klaffte – eine große schwarze Leere mit schweren Lidern, die nichts mit Schlafmangel zu tun hatten. Das Loch in meinem Kopf störte mich nicht. Ich war schon so weit gekommen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
    Ich blieb abrupt stehen und stellte fest, dass ich völlig außer Atem und von Kopf bis Fuß schweißgebadet war. Ich stand am Rand der Brücke, die das Wehr von Whitchurch überspannt. Die Wassermassen ergossen sich sprudelnd und schäumend über den Rand der Wehrmauer, flossen die drei Meter lange Rampe hinunter und bildeten einen wilden Strudel aus Gischt und Bläschen, von dem weißer Dunst aufstieg.
    Meine Füße knirschten auf dem schneeglatten Boden, als ich langsam ein Stück auf die Brücke ging und flussaufwärts ins tiefe, ruhige Wasser starrte. Der Fluss wirkte so herrlich sauber und bitterkalt. Ich atmete und starrte, atmete und starrte, und nach einer Weile wurden mein Atem und das Rauschen des Wassers eins in meinem Kopf. Tief unten im Fluss musste eine kühle Klarheit herrschen, eine Ruhe wie nirgendwo sonst. Ich fing an, von zehn rückwärts zu zählen.

21.
    I ch weiß nicht, wie lange ich dort stand.
    Irgendwann, lange nachdem ich bei null angekommen war, bemerkte ich einen Mann mittleren Alters, der wenige Meter von mir entfernt auf der Brücke stand und mich mit angstvoll aufgerissenen Augen ansah. Er trug Handschuhe und hatte die rechte Hand ausgestreckt, während seine Füße kleine, unauffällige Schritte auf mich zu machten. Neben dem Mann stand ein dicker Golden Retriever, der mich mit schiefgelegtem Kopf aufmerksam beobachtete. Seine schokoladenbraunen Augen waren fest auf mich gerichtet.
    Als ich dem Blick des Mannes begegnete, blieb er stehen, schob verlegen die Hände in die Anoraktaschen und lächelte matt.
    »Aber, aber, alles halb so wild«, sagte er leise. »Sie haben doch keine Dummheiten vor, oder?«
    Während mir langsam bewusst wurde, wie die Situation für den Mann ausgesehen haben musste, blickte ich zurück aufs Wasser und hob dann wieder meinen Blick. Mit schlechtem Gewissen nahm ich zur Kenntnis, dass der Mann kreidebleich im Gesicht war. Ich hatte ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt. Um ihn zu beruhigen, zwang ich mich zu einem verkrampften Lächeln.
    »Gut möglich, dass ich eine Dummheit begehen werde, aber nicht hier und jetzt«, sagte ich ruhig. »Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung.«
    Dann zog ich mein Handy aus der Tasche und rief mir ein Taxi. Ich war viel zu erschöpft, um zu Fuß nach Hause zu gehen, geschweige denn zu joggen.
    Dan war bereits zur Arbeit aufgebrochen, als ich zu Hause ankam. Er hatte mir einen Zettel auf den Küchentisch gelegt, auf dem stand: »Lass uns heute Abend noch einmal reden. Es tut mir leid. Ich liebe dich.« Ich hielt den Zettel lange in der Hand.
    Dann duschte ich und zog mich an, bevor ich Nigel anrief und ihm mitteilte, dass ich krank sei und nicht zur Arbeit kommen könne. Zögernd ging ich zu Dans Schreibtisch und nahm sein Adressbuch aus der Schublade, um die Nummer nachzuschlagen. Dann wählte ich und lauschte auf das Freizeichen, ohne mir vorher mit einem Countdown Mut gemacht zu haben. Diese Zeiten waren vorbei. Meine Entscheidung war gefallen, und ich wusste, dass mich nichts mehr aufhalten konnte. Es klingelte dreimal.
    Als Sophie den Hörer abnahm, sagte ich: »Sie

Weitere Kostenlose Bücher