Der Preis des Schweigens
Ich musste improvisieren und spontan reagieren. Am liebsten hätte ich gleich wieder das Handtuch geworfen, aber beim Gedanken an das Video erwachte mein Kampfgeist. Ich zählte wieder von zehn bis eins, ballte die Fäuste und fixierte den jungen Mann, der der Anführer der Gruppe zu sein schien.
Er saß im Schneidersitz in der offenen Tür seines Campingbusses, hatte den Neoprenanzug bis zur Taille heruntergerollt und trug einen Wollpullover mit Kapuze. Die sonnengebleichten Strähnchen in seinen Haaren waren so gleichmäßig verteilt, dass er bestimmt mit Blondierungsspray nachgeholfen hatte, um einen sorgfältig nachlässigen Surferlook zu erhalten.
Einer der anderen Surfer reichte ihm ein heißes Getränk und einen Schokoladenkeks, Gefälligkeiten, die er mit großer Selbstverständlichkeit entgegennahm. Zwei weitere Surfer saßen auf der Bordsteinkante und lachten über etwas, was ihr Anführer gesagt hatte. Alle vier waren im Studentenalter und besaßen das gesunde, athletische Aussehen von reichen Söhnen, die eine Privatschule besucht hatten. Der Campingbus, in dem der Surfer mit den blonden Strähnchen saß, war nagelneu, ein mit jedem erdenklichen Komfort ausgestattetes Modell in Cremeweiß und Blau. Luxus auf vier Rädern, dachte ich.
»Sorry, Jungs, darf ich euch kurz stören?«, hörte ich mich mit vollkommen entspannter Stimme fragen. »Ich bin auf der Suche nach einem Justin Reynolds. Ihr kennt ihn nicht zufällig? Angeblich surft er auch manchmal hier.«
Der Anführer unterbrach die Geschichte, die er gerade zum Besten gab, und bedachte mich mit einem strahlend weißen Lächeln. Sein Gebiss war bestimmt nicht billig gewesen. Aus der Nähe sah ich, dass er noch jünger war, als ich gedacht hatte, vielleicht einundzwanzig oder zweiundzwanzig.
»Hallöchen!« , begrüßte er mich. »Und wer ist dieser Glückliche, der von dir gesucht wird?«
Was die Privatschule anging, hatte ich eindeutig recht gehabt. Sein Englisch war so akzentuiert und hochgestochen, dass ich mir dagegen wie ein Bauerntrampel vorkam.
»Nur ein alter Freund«, antwortete ich vorsichtig. Schließlich hätte Justin der beste Kumpel dieser Surfer sein können. Vielleicht stand er sogar gerade im Campingbus, wo ich ihn nicht sehen konnte, und zog sich den Neoprenanzug aus oder war zu einer der Imbissbuden gegangen, um sich einen Hotdog zu holen.
»Ein alter Freund, oder ein alter Freund ?«, hakte der Alphasurfer mit einem vielsagenden Glitzern in den Augen nach.
»Sagen wir einfach, ich habe seine Telefonnummer verloren«, gab ich augenzwinkernd zurück. Oh, das war gut, dachte ich. Kokett, aber unverbindlich. Ich war positiv überrascht von mir selbst. Mein Selbstvertrauen wuchs.
»Ich kann dir meine geben, wenn du dich dann besser fühlst«, bot er an und knipste wieder sein strahlendes Lächeln an. Wenn ich in seinem Alter doch nur so unbefangen gewesen wäre, so selbstverständlich meinen Platz in der Welt beansprucht hätte. Nicht einmal heute, mit neunundzwanzig Jahren, besaß ich ein vergleichbares Selbstvertrauen. Mach jetzt nicht alles kaputt, indem du vor Scham im Erdboden versinkst , ermahnte ich mich, als ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. Hoffentlich ging es als frische Gesichtsfarbe durch, die mir der Winterwind ins Gesicht getrieben hatte.
»Das ist mit Abstand das beste Angebot, das mir heute unterbreitet wurde«, schaltete ich mich wieder in das Gespräch ein und gab mir Mühe, so scherzhaft und beiläufig wie möglich zu klingen.
»Der Tag ist jung, vielleicht ergibt sich ja noch etwas Besseres«, sagte einer der Surfer von der Bordsteinkante und grinste schüchtern, woraufhin der Alphasurfer einen Gummischuh nach ihm warf. Die Runde lachte.
»Wirklich zuvorkommend von euch«, bedankte ich mich. »Aber ich muss diesen Typen wirklich finden. Justin Reynolds?«
»Sorry, Süße, aber der Name sagt mir nichts«, antwortete der Anführer. Auch die anderen schüttelten die Köpfe. »Schuldet er dir Geld, oder so was?«
»Nein, nein. Ich würde nur gern mit ihm sprechen. Er hat einen total schönen Campingbus, einen alten. Vielleicht habt ihr den schon mal in der Gegend gesehen. Mit einem aufgemalten Hai auf der Seite?«
Ich versuchte gar nicht erst, so zu klingen wie Carl und Dinge wie »geiler Bus« oder »lässiges Design« zu sagen. So weit reichte mein schauspielerisches Talent nicht. Ich hatte das Gemälde auf Justins Bus zwar nicht selbst gesehen, konnte mir dank Carls Surfbrett aber
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