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Der Priester

Der Priester

Titel: Der Priester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerard O'Donovan
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Mullins’ Adresse geschrieben hatte. Das war die einzige Spur, auf die er bisher gestoßen war. Er sah sich die Adresse noch einmal an. Sie war keine zwei Kilometer entfernt. Er wendete und fuhr in Richtung Irishtown.
    Er war zwar nur anderthalb Kilometer gefahren, doch die Straße, in der Grainne Mullins wohnte, schien Lichtjahre von den ruhigen Alleen des Botschaftsviertels entfernt zu sein. Die Sozialwohnsiedlung war auf einer ehemaligen Mülldeponie erbaut worden und lag im Schatten des Pigeon-House-Kraftwerks. Sie war umschlossen von den Abfällen der südlichen Flussdocks und drei belebten Hauptverkehrsstraßen. Ein paar hagere Jugendliche mit Bürstenschnitt, Baseballkappen und alten Turnschuhen starrten ihn verdrießlich an, als er vorbeifuhr. Sie hatten ihn instinktiv als Polizisten erkannt. Er parkte vor dem Haus Nummer 18, dem letzten in der Straße, schloss den Wagen ab, ging zur Tür und klingelte, während er die Blicke der Jugendlichen in seinem Rücken spürte und die Verzückung in ihren höhnischen Bemerkungen hörte. Einer rief lauter als die anderen: »Gehst ’ne Nummer schieben, wa, Bulle?«
    Er beachtete sie nicht, nahm vielmehr die dünne, windzerzauste Hecke in Augenschein, die sich ums Haus zog. Dahinter hatte laut Bericht der Überfall stattgefunden. Er bezweifelte, dass hier irgendjemand auf Hilferufe reagiert hätte, selbst wenn die Frau nicht geknebelt gewesen wäre.
    Der Geruch von saurer Milch und Schimmel erreichte ihn schon, bevor sie die Tür so weit geöffnet hatte, dass er sie sehen konnte. Sie war klein, unter eins sechzig, trug ein weites, rosafarbenes Top mit U-Ausschnitt und hellblaue Jeans. Dicke blondierte Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Es musste vor nicht allzu langer Zeit hübsch gewesen sein, jetzt aber war es eingefallen und vom Leben gezeichnet.
    »Grainne Mullins?«
    »Ja, was ist los?«
    Sie beäugte ihn misstrauisch, legte einen Arm über die Brust und zupfte mit der anderen Hand unsicher an ihrem Pony herum. Mulcahy erstarrte. Unter ihren Haaren hatte sie eine helle Narbe auf der Stirn. Er konnte den Blick nicht abwenden. Niemand hätte behaupten können, dass das kein Kreuz wäre. Wieso war das im Bericht nicht erwähnt worden?
    »Gibt’s was Bestimmtes, oder wollen Sie mich einfach nur anstarren?«
    »Entschuldigung«, sagte er. »Ich bin von der Polizei.«
    »Ja, das seh ich, aber was wollen Sie? Mein Baby hat Hunger.«
    Wie aufs Stichwort fing im Haus ein Baby an zu schreien. Mulcahy sah an der Frau vorbei ins Haus, wo die Tapeten sich im Flur von den Wänden lösten. Die Treppe war mit schmutzigem, rosa Teppichboden belegt, und hinter einer der Wohnungstüren war eine Küche zu erkennen. Sie ähnelte einem Sumpf.
    »Ich würde mit Ihnen gern kurz über den Überfall vor einem Jahr sprechen«, sagte Mulcahy.
    Ihre Reaktion traf ihn völlig unvorbereitet.
    »Sie ticken ja wohl nicht ganz richtig, was?«, fauchte sie mit wütender Miene und wollte ihm die Tür vor der Nase zuschlagen. Er bekam gerade noch den Fuß dazwischen.
    »Nein, bitte warten Sie, Grainne«, flehte er.
    »Sie können mich mal.« Sie stemmte ihr geringes Gewicht von innen gegen die Tür. »Euer Verein ist einfach unglaublich. Warum könnt ihr nicht einfach bezahlen wie alle anderen auch.«
    »Ich will nur mit Ihnen reden.«
    »Ja, aber klar doch. Genau wie der andere Wichser, oder was?«
    »Hören Sie, ich hab keine Ahnung, wovon Sie reden, Grainne, aber ich schwöre Ihnen, dass es wichtig ist. Ich glaube, der Kerl, der Sie überfallen hat, hat wieder zugeschlagen. Dieses Mal sogar noch schlimmer. Ich brauche Ihre Hilfe – um ihn aufzuhalten.«
    Er spürte, wie der Druck auf seinen Fuß nachließ, sah, wie der Schatten ihrer Figur sich von der Scheibe in der Tür entfernte. Ihr Gesicht erschien im Türspalt – er konnte den Blick nicht von den Augen und der vernarbten Stirn abwenden.
    »War es wieder eine, die anschaffen geht?«, fragte sie. »Ich dachte, das würde ich mitkriegen.«
    »Nein, ein Mädchen.« Schon während er das sagte, wurde ihm bewusst, welche Ironie in den Worten lag, da die Frau vor ihm nur gut vier Jahre älter war als Jesica Salazar.
    »Na, dann kommen Sie lieber rein.«
    Mulcahy merkte schnell, warum in dem Fall nie richtig ermittelt worden war. Prostituierte wurden von niemandem fair behandelt und von der Garda Síochána schon gar nicht. Grainne Mullins sagte es zwar nicht direkt, aber Branigan, der Detective, der für ihren Fall zuständig gewesen war, hatte

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