Der Prinz in meinem Maerchen - Roman
und dabei überhaupt nicht mitbekam, wie das Personal sie heimlich beobachtete.
Genauso gut konnte sie sich ihren Großvater vorstellen, wie dieser absolute Stille anordnete, damit Betty glaubte, allein zu sein, um dann ungehemmt spielen zu können. Anna liebte den strengen, aber doch liebenswürdigen Mr. Laurence, und dieses Kapitel brachte sie oft zum Weinen, wenn sie daran dachte, welch guter Großvater ihr eigener Vater einmal sein würde. Als sie selbst etwa in Lilys Alter gewesen war, hatte ihr Vater gewartet, bis sie sich ans Klavier gesetzt hatte und ihre Übungen schrecklich falsch spielte. Dann war er immer hereingekommen, hatte völlig überrascht getan und erklärt, »Ist das Radio nicht an? Ich dachte, ich hätte eine Schallplattenaufnahme gehört!«
Annas Blick war mit einem Mal wie verschleiert, und sie hätte darüber beinahe das aufgeregte Gemurmel gar nicht mitbekommen, das sich im Saal ausbreitete. Sie blinzelte. Becca hatte aufgehört vorzulesen; Tränen liefen ihr über die Wangen. Nach einem kurzen Blick zu Anna schob sie ihr das Buch in die Hände und lief aus dem Aufenthaltsraum.
» So emotional war es nun auch wieder nicht«, stellte Evelyn herablassend fest. »Dabei war es nicht einmal die Stelle, an der das Kind beinahe stirbt.«
Es dauerte eine Weile, bis Anna Becca gefunden hatte. Doch als sie die Tür zu den Personaltoiletten aufstieß, hörte sie ein Schluchzen aus einer der Kabinen.
Sanft klopfte sie an die verschlossene Tür. »Becca? Ich bin’s. Komm schon raus, Liebes!«
Einen Augenblick lang war das Schluchzen unterbrochen, bevor es wieder anfing, nur dieses Mal noch lauter.
»Becca, was ist? Ist etwas mit dem College?« Anna wollte Becca nicht noch mehr Sorgen bereiten, aber sie wollte sie zumindest wissen lassen, dass sie Verständnis hatte. »Ist es, weil du Owen verlassen musst? Weißt du, so ein Semester ist nicht besonders lang – bevor du dich versiehst, ist es auch schon wieder vorbei.« Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort. »Und wenn er nach London zurückgehen sollte, dann ist er ohnehin nur eine Stunde von dir entfernt!«
Keine Antwort. »Ist es etwas anderes?«
Anna lehnte sich mit der Stirn an die Tür und versuchte sich daran zurückzuerinnern, wie es war, achtzehn zu sein und das Gefühl zu haben, außer einem selbst wäre noch nie jemand verliebt gewesen. »Ich weiß, wie schwer es ist, ihn zu verlassen, das weiß ich wirklich. Aber die nächsten Jahre werden ganz toll. Dir stehen so viele Möglichkeiten offen, und du wirst so viel Neues kennenlernen. Neue Leute, die Vorlesungen, die vielen Partys …«
Ganz langsam öffnete sich die Toilettentür, und Beccas tränenüberströmtes Gesicht kam zum Vorschein. Sie sah aus wie zwölf, vollkommen erschöpft und verängstigt. Anna tat dies in der Seele weh; ganz sicher ging es nicht allein darum, von Longhampton fortzugehen. Bestimmt waren das auch noch die Nachwirkungen des ganzen Klausurstresses. Becca hatte sich so wacker geschlagen. Fast zu wacker. Auch das Gefühl war Anna nicht gerade unbekannt.
Sie breitete die Arme aus, und Becca stürzte sich auf sie.
»Was hat dich denn so traurig gemacht?«, fragte Anna, als Becca, die beinahe einen ganzen Kopf größer war als sie selbst, sich an sie klammerte. »Hast du an deinen Großvater denken müssen?«
»Nein, ich habe an … Dad gedacht.«
Anna sah Beccas Gesicht nicht, konnte sich aber ihre Miene gut vorstellen. Becca vergötterte Phil, und Phil vergötterte Becca, seine unkomplizierte, hochtalentierte Erstgeborene. Zwar nahm er sie nicht so oft wie die anderen beiden klettenähnlichen Töchter in den Arm, aber seine große Liebe wurde auf andere Art und Weise deutlich: über ihre Insiderwitze und seinen oftmals fast verblüfften Stolz auf alles, was sie sagte und tat.
»Du wirst immer sein kleines Mädchen bleiben«, erklärte Anna und streichelte Becca über das Haar. »Selbst jetzt, wo du erwachsen bist und deine eigenen Wege gehst. Er ist so stolz auf dich!«
Dies löste einen weiteren schluckaufartigen Schluchzanfall aus. Anna gratulierte sich gerade selbst dafür, den Grund für Beccas Kummer richtig diagnostiziert zu haben, als sich Becca von ihrer Schulter löste, ihr in die Augen sah und dann den Blick zu Boden schlug.
»Anna.« Beccas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und sie schien jedes Wort einzeln zu prüfen, als habe sie Angst, es aus ihrem eigenen Munde zu hören. »Anna, ich muss dir etwas sagen, aber du darfst Dad nichts
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