Der Prinzessinnenmörder
Friedhof, der unten im Dorf um die barocke Pfarrkirche angelegt war. Von der Pfarrkirche sah man vom Bergfriedhof aus nur die Turmspitze, die über die Anhöhe hinausragte. Es hatte tatsächlich den Anschein, als wachse die Turmspitze aus der verschneiten Wiese. Im Winter zog es nur wenige Menschen zum Friedhof. Und die blieben nicht lang. Schnee bedeckte die Gräber. Die Grabpflege musste bis zum Frühjahr warten. Gelegentlich fanden sich ältere Touristen ein, um das Grab von Ludwig Erhard zu besuchen. Zu diesen Grabpilgern zählte vermutlich auch das Rentnerpaar, das fast zeitgleich mit Rathberg und dem Mädchen angekommen war. Rathberg wollte warten, bis sie wieder wegfuhren. Das Mädchen lief im Kreis um den Transporter herum, rieb sich die kalten Hände und war nervös.
»Ich hab’s Ihnen gesagt. Der Bursche ist nicht der Pünktlichste. Aber er kommt. Keine Sorge.«
An der Friedhofsumzäunung kamen die beiden Rentner wieder in Sicht. Rathberg war erleichtert, dass er endlich anfangen konnte. Er öffnete die Schiebetür des Wagens. Im Inneren befanden sich zusätzlich zur sonstigen Ausstattung eine neue Sackkarre und eine große Plastiktonne. Rathberg holte aus dem Netz auf der Rückseite des Beifahrersitzes die Thermoskanne. Die Rentner kamen in diesem Augenblick aus dem Friedhofstor. Sie gingen mit kleinen Schritten, sich gegenseitig stützend über den Schnee zu einem silbernen Jetta. Ein Handy klingelte. Rathberg überlegte eine Sekunde, ob es seines war. Doch das war ausgeschaltet. Er sah zu dem Mädchen. Es hatte sein Handy in der Hand und blickte auf das Display. Dann drückte es auf Annahme und hielt das Handy ans Ohr. Das Mädchen entfernte sich Richtung Jetta. Rathberg konnte nur vereinzelte Wortfetzen hören. Er verstand »Fernsehen«, »Regisseur« und »Friedhof«. Der Jetta fuhr erst an dem Mädchen, dann an Rathberg vorbei. Als man wieder etwas hätte verstehen können, hatte das Mädchen sein Gespräch beendet. Rathberg ging zu dem Mädchen. Er hatte den Eindruck, ihr Blick habe sich verändert. Aber das konnte auch seine Nervosität sein, die ihm das vorgaukelte.
»Na?«, fragte Rathberg. »Ein wichtiger Anruf?«
»Nein, nein. Überhaupt nicht.«
»Tatsächlich? Völlig unwichtig?«
Das Mädchen zögerte. Es schien fieberhaft zu überlegen. Zumindest kam es Rathberg so vor. Was spielte sich hinter diesen Augen ab? Es machte Rathberg nervös, dass er es nicht wusste. Und noch etwas machte ihn nervös: Die Augen erinnerten ihn an Lisa. Die Strahlen der Wintersonne brachen sich in diesem Augenblick in den Augen des Mädchens. Die Augen waren hellbraun und nicht blau wie Lisas Augen. Dennoch berührte ihn die Art, in der das Mädchen in die Sonne blinzelte.
»Gibt’s irgendwelche Probleme?« Die Augen des Mädchens sahen Rathberg an. Eine halbe Ewigkeit, wie ihm schien. Plötzlich zeigten sich kleine Lachfalten in den Augenwinkeln.
»Nein«, sagte das Mädchen. »Das war eine Freundin. Sie wollte wissen, wie es mit dem Regisseur war. Aber – na ja …«
Sie deutete auf den leeren Parkplatz.
»Ich bin wirklich untröstlich. Wie wär’s mit einem Tee?«
Das Mädchen zögerte kurz. Wieder war Rathberg nicht sicher, ob alles stimmte.
»Super Idee. Mir wird langsam kalt.«
Wallner musste sich die Nummer auswendig merken. Er fuhr immer noch Richtung Miesbach und hatte keine Hand frei, um sie aufzuschreiben. Irgendwie war ihm in die Nummer ein Zahlendreher hineingeraten. Bei seinem ersten Versuch meldete sich ein junger Mann, der sich den Hintergrundgeräuschen nach auf einem Flughafen befand. Wallner unternahm zwei Versuche, den Zahlendreher zu beheben. Dann gab er auf und rief Tina an.
Rathberg schraubte den Deckel auf die Thermoskanne und steckte sie wieder in das Netz hinter dem Beifahrersitz. Das Mädchen wurde jetzt ungeduldig. Allerdings verriet ihr Blick, dass die Wirkung des Flunitrazepam einzusetzen begann.
»Ich frag mal, wo die bleiben«, sagte Rathberg. Er nahm sein Handy, drückte ein paar Knöpfe, hielt es sich ans Ohr und gab vor, mit dem Regisseur zu sprechen. Er sagte: »Aha … gut … bis gleich.« Dann steckte er das Handy weg.
»Sind kurz vor Gmund. Fünf Minuten noch.«
Das Mädchen nickte halbwegs beruhigt. Da klingelte erneut ein Handy. Rathberg hatte zunächst Schwierigkeiten, die Herkunft des Tones zu orten. Dann erinnerte er sich, dass das Mädchen sein Handy auf dem Beifahrersitz hatte liegen lassen, als er ihm den Becher mit dem Tee gegeben
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