Der Prinzessinnenmörder
weniger geworden. Sie hatte viele Fragen, aber jetzt war nicht die Zeit, über solche Dinge zu reden. Wallner schob seine leere Tasse zu Melanie und wusste ebenfalls nicht recht, wie es weitergehen sollte. Schließlich versuchte er es mit der Andeutung eines Lächelns: »Wie sieht’s morgen Abend aus?«
Melanie nickte erleichtert.
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22 . Kapitel
R alf Wickede war seit sechs Stunden unterwegs. Irgendwo in Dortmund. Wo genau, wusste er nicht. Nachts sah alles gleich aus. Es hatte auch keine Bedeutung, wo er war. Er war immer im Feindesland. Vor einer halben Stunde hatte er ein Verkehrsschild gesehen, auf dem hatte »Hafen« gestanden. Der Wind blies wieder stärker. Wickede zog den Kragen des Wintermantels über die Ohren. Der Mantel war ihm zu klein. In der Ferne sah Wickede die erleuchtete Uhr einer Bushaltestelle. Es war fünf Minuten nach vier.
Niemand war auf der Straße. Die Stadt war leer. Sie hatte sich verändert in diesen vierzehn Jahren. Alles war sauberer geworden. Das Wartehäuschen mochte keine zwei Jahre alt sein. Ja, der Ruhrpott war wieder im Kommen. Das hatte er in der Zeitung gelesen. Sein Bruder hatte sie für ihn abonniert. In einer Stunde würde der Austräger kommen und die Zeitungen an der Pforte abgeben. Wickede überkam für einen Moment der Gedanke, zurückzugehen und seine Zeitung zu holen. Dann wurde ihm klar, dass ein solches Unterfangen unvorsichtig war. Auch wusste Wickede nicht, wie er nach Aplerbeck zurückfinden sollte.
Aplerbeck war der Dortmunder Stadtteil mit der psychiatrischen Klinik. Wer in Aplerbeck wohnte, musste sich von Leuten, die nicht da wohnten, Witze über seinen Geisteszustand anhören. Und wenn jemand nicht richtig war im Kopf oder wenn die Leute das glaubten, dann sagten sie: »Ab nach Aplerbeck!«
Wickede war vor vierzehn Jahren nach Aplerbeck gekommen. Wegen einer schweren paranoiden Störung. Damals war er vierunddreißig gewesen. Seine Karriere als Gymnasiallehrer für Mathematik und Physik war beendet. Sie hatten Wickede frühpensioniert. Bevor Wickede eingewiesen worden war, hatte seine Paranoia bereits eine längere Geschichte. Mit vierzehn bekam er das erste Mal Angstzustände, weil ihm klarwurde, dass sein bester Freund ihn ausspionierte. Er versuchte, seine Erkenntnis zu ignorieren, beendete aber den Kontakt zu dem Freund. Mit neunzehn vertraute sich Wickede trotz schwerer Bedenken seinem älteren Bruder Oliver an. Oliver sagte es den Eltern. Die Eltern sorgten dafür, dass Wickede in Therapie kam. Nach vier Jahren Therapie konnte Wickede mit seiner Krankheit umgehen und gegenüber seinen Mitmenschen zumindest so tun, als misstraue er ihnen nicht. In Wirklichkeit war Wickede klar, dass letztlich jeder, mit dem er zu tun hatte, an der Verschwörung beteiligt war. Einschließlich seines Bruders Oliver und des Therapeuten. Wickede lernte, diese Gedanken auszublenden und offensiv mit seiner Krankheit umzugehen. Menschen, die er besser kannte, sagte er, dass er paranoid war und dass er jeden, einschließlich des momentanen Gesprächspartners, für »verstrickt« hielt. Aber er sagte den Leuten auch, dass das Teil seiner Krankheit sei, die er sehr wohl erkenne und akzeptiere. Er könne nun mal nicht anders, als anderen zu misstrauen.
An seinem vierunddreißigsten Geburtstag hatte Wickede eine Einsicht, die ein weiteres Leben in der Scheinnormalität, in der er sich eingerichtet hatte, nicht länger zuließ. Wickede wurde klar, dass er gar nicht krank war. Es mochte durchaus echte Paranoiker geben. Kranke Menschen, dunkle Schicksale. Möglich, dass sie das nicht alles erfunden hatten. Möglich, dass es tatsächlich Leute gab, die an Verfolgungswahn litten. Er war jedenfalls keiner von denen. Von den Kranken. Er war normal wie jeder andere Mensch. Mit dem einzigen Unterschied, dass gegen ihn, Wickede, tatsächlich eine Verschwörung ungeahnten Ausmaßes im Gang war. Und Teil dieses Komplotts war der dreiste, aber letztlich zum Scheitern verurteilte Versuch, Wickede einzureden, er sei geisteskrank. Auf seiner Geburtstagsfeier hatte er die Anwesenden damit konfrontiert, dass er es wusste, hatte laut gelacht und hatte ihnen ihre heuchlerischen Masken vom Gesicht gerissen. Irma Sowicki, die er seit dem Kindergarten kannte, hatte er derart die Maske vom Gesicht gerissen, dass ihre Nase brach. Andere hatten zu schlichten versucht, hatten ihn festgehalten und beruhigend auf ihn eingeredet. Aber Wickede ließ sich nicht mehr täuschen und hieb auf ihre
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