Der Prinzessinnenmörder
verlogenen Visagen ein, dass es eine Art hatte. Er galt von Tag an als gefährlich und kam nach Aplerbeck.
Am Abend zuvor um kurz vor sieben war eingetreten, worauf Wickede dreizehn Jahre, acht Monate und siebzehn Tage gewartet hatte: das Zusammentreffen dreier unwahrscheinlicher Gegebenheiten. Gegebenheit eins: Im Aufenthaltsraum hatte ein Besucher seinen Mantel über eine Stuhllehne gehängt und war weg. Auf der Toilette, in einem Patientenzimmer. Wo auch immer. Gegebenheit zwei: Zu dem Zeitpunkt, als Wickede den Mantel entdeckte, waren fast alle Pfleger bei der Ausstandsfeier eines Kollegen in einer anderen Abteilung. Es sollte nur eine halbe Stunde dauern, hatte Wickede mitbekommen. Gegebenheit drei: Zurückgelassen hatte man den neuen Pfleger Kaulbein, weil der den scheidenden Kollegen ohnehin nicht kannte. Allerdings kannte Kaulbein auch Wickede nicht, denn man hatte dem Neuen noch nicht alle Patienten vorgestellt.
Wickede wusste, diese Chance würde er in seinem Leben nicht noch einmal bekommen. Er zog sich rasch den verwaisten Mantel an und ging ins Pflegerzimmer. Dort hingen an der Innenseite der Kleiderschranktür drei Krawatten, die man für offizielle Anlässe vorrätig hielt. Wickede band sich eine Krawatte mit weißen und braunen Streifen um, kämmte sich die Haare und setzte eine Lesebrille auf, die neben einer Zeitung auf dem Tisch lag. Die Teeküche war drei Türen weiter. Dort fand Wickede den neuen Pfleger und bat freundlich, Kaulbein möge die Stationstür öffnen. Kaulbein begleitete Wickede dienstfertig zur Tür und fragte unterwegs, wen Wickede denn besucht habe. Wickede sagte, er habe den Patienten Ralf Wickede besucht. Kaulbein sagte, den habe er noch nicht kennengelernt. Aber er habe auch erst vor ein paar Stunden seinen Dienst hier angetreten. Wickede versicherte Kaulbein der großen Wertschätzung, die er für die Arbeit des Pflegepersonals in dieser Abteilung empfinde, und wünschte Kaulbein viel Erfolg bei seiner neuen Arbeit. Kaulbein schloss die Stationstür auf. Wickede verabschiedete sich und ging in euphorischer Stimmung zur Pforte, wo er den Pförtner jovial grüßte, aber vergaß, den Besucherausweis abzugeben. Der Pförtner rief Wickede noch hinterher. Aber so wichtig war es dann doch nicht. Nach dreizehn Jahren, acht Monaten und siebzehn Tagen war Wickede wieder draußen. Er warf die Lesebrille in einen Papierkorb und ging in die Nacht hinaus.
Wickede lief an einem Hafenbecken entlang. Er sah Kais, an denen Frachter der Binnenschifffahrt vertäut lagen. Auf einem der Schiffe hing die Wäsche im nächtlichen Wind. Ein weißer Kittel flatterte über dem Deck. Wickede musste an Frau Dr.Jochbein denken, die Stationsärztin. Frau Dr.Jochbein war Anfang vierzig. Die therapeutischen Gespräche mit ihr waren die Höhepunkte seines sonst von Abgründen geprägten Lebens. Sie hatte feine, nicht zu dünne Hände, eine volle Unterlippe, abstehende Ohren und einen heiteren Blick. Den hatten nicht mehr viele, wenn sie lange in Aplerbeck waren. Frau Dr.Jochbein machte Wickede glauben, dass sie ihn mochte und an der Heilung seiner Krankheit interessiert sei. Wickede mochte Frau Dr.Jochbein und wollte mit ihr schlafen. Nicht, dass er sie nicht durchschaute. Natürlich. Auch sie steckte mit drin. Man konnte sogar sagen, die Ärztin war eine der Schlüsselfiguren in dieser unappetitlichen Angelegenheit. Am Anfang hatte Wickede noch gehofft, sie sei ahnungslos. Aber die Zeichen waren zu offensichtlich, als dass man sie hätte auf Dauer ignorieren können: Frau Dr.Jochbein war auf Wickede angesetzt, um sein Vertrauen zu gewinnen und seine innersten Gedanken zu erforschen. Diese Einsicht machte Wickede traurig, minderte aber nicht sein Verlangen, mit Frau Dr.Jochbein zu schlafen. Möglicherweise hatte man sie ja angewiesen, bis zum Äußersten zu gehen, um an Informationen zu gelangen. Möglicherweise würde sie nicht davor zurückscheuen, ihren Körper einzusetzen, um gewissenhaft ihrer Mission zu dienen. Im Grunde war das sogar sehr wahrscheinlich. Denn Wickede hatte all den falschen Ärzten und all den ebenso falschen Mitpatienten in den letzten Jahren ein gerüttelt Maß an Narreteien erzählt, um seine Feinde zu verwirren. Es konnte denen aber nicht verborgen geblieben sein, dass Wickede sie an der Nase herumführte. Es blieb seinen Gegnern also gar nichts anderes übrig, als schwerstes Geschütz aufzufahren. Wickede fasste den Entschluss, Frau Dr.Jochbein jetzt sofort aufzusuchen und sie zu
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