Der Privatdozent
Schein gewahrt bleibt …
Als ich den Aufzug ein wenig außer Atem betrete, schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass meine Verspätung aber nicht der eigentliche Punkt für mein schlechtes Gewissen ist. Es ist vielmehr der Grund, weshalb ich zu spät komme … Ich habe mich zwar gleich nach Lukas‘ zweitem Schuss noch mal abgeseift, aber mein feuchtes Loch weiß, was heute vor dem Seminar passiert ist und wird es wohl auch den ganzen Tag nicht vergessen. Kann ich gegenüber Marco wirklich so tun, als sei das mit Lukas nie geschehen?
Als ich aus dem Lift trete und die Tür vom Seminarraum am Ende des Flurs sehe, bin ich mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob ich heute wirklich da auftauchen sollte. Vielleicht wäre es doch besser, ich würde nächstes Semester einen anderen Kurs belegen? Dann verwerfe ich aber den Gedanken. Erst abwarten, was passiert, dann denken …
Ich öffne ganz leise die Tür und schiebe mich in den Raum. Marco steht natürlich vorn und redet wieder Sätze, die vor lauter Fachbegriffe kein Mensch versteht. Kurz hält er inne. Ich glaube ein Funkeln in seinen Augen zu sehen, das mir sagt, dass er schon auf mich gewartet hat und der Tag nun für ihn gerettet ist. Dann verdüstert sich seine Miene aber sofort.
„Ähm, ‘tschuldigung”, sage ich und senke devot den Kopf. Für einen Augenblick habe ich das Gefühl, dass ich jetzt so stehen bleiben muss, bis Marco mich erlöst, doch der fährt mit seinem Vortrag weiter fort. Schnell drücke ich mich in die letzte Reihe.
„Mann, du hast echt Mut”, flüstert Mara mir zu.
„Dir auch einen schönen Morgen.”
„Mein Morgen ist schon seit über vierzig Minuten vorbei.” Mara nickt nach vorn. „Ich glaub, der labert jede Stunde den gleichen Mist.”
Ich habe das Gefühl, dass ich Marco irgendwie verteidigen muss. Aber das würde sicher komisch rüberkommen. Also nicke ich nur.
„Wenigstens hast du mit deiner Entschuldigung Schlimmeres verhindert. Hatte eigentlich damit gerechnet, dass er dich jetzt rausschmeißt …”
Ich nicke wieder nur, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.
„Und diese bescheuerten Locken!”, fügt Mara kurz darauf noch an. „Das sieht so verdammt schwul aus …” Dann sieht sie mich erschrocken an. „Also, ich meine …”
„Schon gut”, beruhige ich sie.
„Meinst du, der ist schwul?”, fragt Mara jetzt neugierig.
Ich zucke mit den Achseln.
„Kannst du das bei anderen nicht sehen?”
„Nee”, lüge ich. Bei Marco ist es zwar nicht offensichtlich, aber wenn ich auch nur einmal vorher in diese Richtung gedacht hätte, wäre es mir bestimmt aufgefallen. Bei Lukas allerdings hätte ich nie getippt, dass er sich mit einem Mann einlassen würde. Also vielleicht ist es gar nicht so sehr gelogen, wenn ich behaupte, keinen Schwulenradar zu haben.
„Hast du keine Lust, mit mir zu lästern?”, fragt Mara plötzlich. „Ich dachte, du kannst den Kerl auch nicht leiden.”
„Ich …” Ja, verdammt, was soll ich ihr jetzt sagen? Dass ich in der Zwischenzeit mit dem Dozenten gepoppt habe und ihn deshalb jetzt mit anderen Augen sehe?
Mara schaut mich erwartungsvoll an. Aber mir will gerade absolut nichts einfallen. Dann schaut sie zwischen mir und Marco hin und her und plötzlich blitzt es in ihren Augen.
„Sag mal, wie war eigentlich dein Gespräch mit ihm?”, fragt sie jetzt und legt die Stirn in Falten.
„Ganz okay”, antworte ich knapp, spüre aber, dass ich ein wenig rot werde.
„Ganz okay?”, hakt Mara jetzt laut nach.
„Die Herrschaften in der letzten Reihe!”, funkt Marco jetzt dazwischen. „Sie dürfen das Seminar gern verlassen, mein Angebot steht. Und Sie, Herr Falkner, Sie dürfen mich nach der Stunde gern noch mal in meinem Büro aufsuchen, wenn es Sie so sehr danach verlangt.”
Alle Augen sind auf uns gerichtet. Also nicke ich nur stumm. In Marcos Blick liegt nur Verärgerung, aber ich weiß ja, wie er das mit dem Angebot meint. Oder?
„Boah”, murmelt Mara. „Wie der dich gerade angeguckt hat …”
Ich sehe in ihrem Blick, wie sich die Puzzlesteine allmählich zusammenlegen. Ihre Stirn runzelt sich. Unglaube tritt in ihre Augen. Dann fügt sie nach einer Weile tatsächlich hinzu: „Da war letzte Woche doch was zwischen euch, oder?”
„Quatsch”, zische ich, aber es klingt wie eine Lüge.
„Darum hast du gesagt, dass es ein seltsames Gespräch war.” Mara schüttelt fassungslos den Kopf.
„Mara, überleg doch mal bitte kurz …”
„Warum?
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